Israel und die Westbank: "Im Grunde sind wir uns so nah"

1.7.2020, 16:24 Uhr
Ein ultra-orthodoxer Siedler im Ort Jitzhar südlich von Nablus spielt mit seinen Kindern. Mehr als 450 000 Siedler leben inzwischen im Westjordanland (ohne Ost-Jerusalem). Foto: Menahem Kahana/ afp

© Foto: Menahem Kahana/ afp Ein ultra-orthodoxer Siedler im Ort Jitzhar südlich von Nablus spielt mit seinen Kindern. Mehr als 450 000 Siedler leben inzwischen im Westjordanland (ohne Ost-Jerusalem). Foto: Menahem Kahana/ afp

Es war schwierig, dieses Gespräch überhaupt zustande zu bekommen. Vor diesem kritischen Moment am 1. Juli, für den die israelische Regierung angekündigt hatte, mit der Annexion von bis zu 30 Prozent der Westbank zu beginnen, wollten beide Seiten keinen Teilnehmer für ein solches Streitgespräch benennen. Wir fanden dafür zwei Persönlichkeiten, die das an ihrer Stelle auf sich nahmen – was keine leichte Entscheidung war. Obwohl sie sich nicht kannten, duzten sich beide bei dem Video-Chat sofort. So hitzig es teilweise zuging, am Ende erklärten beide ihre Absicht, sich zu besuchen. Denn: Wer redet, schießt nicht.

Herr Osterer, Sie sind kein offizieller Sprecher der israelischen Seite. Aber können Sie uns erklären, warum es kein Verstoß gegen das Völkerrecht ist, wenn sich Israel 30 Prozent des Westjordanlandes einverleibt?

Oren Osterer: Die Antwort ist ganz leicht. Es gibt, wenn man sich die Westbank ansieht, einen einzigen Staat, der ein völkerrechtlich verbrieftes Anrecht auf dieses Territorium hat. Das ist der Staat Israel. Dieser Anspruch stammt vor allem aus dem Völkerbundsmandat von 1922/23, aber auch schon aus Verträgen zuvor, etwa Sanremo (Bei der Konferenz in dieser italienischen Stadt im Jahr 1920 ging es um die Neuaufteilung des besiegten Osmanischen Reichs; Anm. d. Red.) .Kein anderes Land hat Anspruch auf dieses Territorium. Deswegen kann es schon aus diesem Grund kein Bruch des Völkerrechts sein, wenn Israel sich also jetzt Teile dessen, was ihm zusteht, in seine eigene Jurisdiktion holt. Außerdem: Subjekte des Völkerrechts sind souveräne Staaten. Nun gibt es die Palästinensische Autonomiebehörde, aber das ist kein souveräner Staat und kann deswegen auch keinen völkerrechtlichen Anspruch auf dieses Territorium erheben.

Oren Osterer (39) ist Experte für die Geschichte Israels mit Fokus auf dessen Gründung im Jahr 1948. Seit 2018 verantwortet der Münchner die Ausstellung „1948. Wie der Staat Israel entstand“, getragen vom Münchner Verein „Demokratie und Information". Er ist promovierter Historiker, Politologe und Medienwissenschaftler. In seiner Dissertation untersuchte Osterer das „Israelbild in Tageszeitungen der DDR“.

Oren Osterer (39) ist Experte für die Geschichte Israels mit Fokus auf dessen Gründung im Jahr 1948. Seit 2018 verantwortet der Münchner die Ausstellung „1948. Wie der Staat Israel entstand“, getragen vom Münchner Verein „Demokratie und Information". Er ist promovierter Historiker, Politologe und Medienwissenschaftler. In seiner Dissertation untersuchte Osterer das „Israelbild in Tageszeitungen der DDR“. © Johannes Graf

Die Oslo-Verträge

Faten Mukarker: Warum nehmen die dann nicht alles, sondern nur 30 Prozent?
Osterer: Es gibt natürlich jenseits der völkerrechtlichen Betrachtung auch politische und moralische Erwägungen, die man diskutieren kann. Ich glaube nicht, dass Israel ein Interesse hat, alle Palästinenser in sein eigenes Territorium zu holen.

Wir dürfen ja nicht vergessen, dass 95 Prozent der Palästinenser in der Westbank in den palästinensischen Autonomiegebieten leben. Die Gebiete, um die es jetzt geht, sind die, die zu der sogenannten C-Zone gehören, die unter israelischer Kontrolle stehen. Das heißt, wenn Israel jetzt Schritte unternimmt, ändert sich nur de jure etwas, de facto aber gar nichts.

Mukarker: Die A-, B- und C-Gebiete sollten laut den Oslo-Verträgen von 1993 nur fünf Jahre gelten. Dann sollte (der damalige Palästinenserführer) Jassir Arafat das Recht haben, einen eigenen Staat Palästina auszurufen. Irgendwann sollte das alles A-Zone werden (in der die Palästinenser die Kontrolle haben; Anm. d. Red.) und zu Palästina gehören.

Faten Mukarker (64) ist eine palästinensische Friedensaktivistin, Reiseleiterin und Buchautorin. Die griechisch-orthodoxe Christin wuchs in Deutschland auf, weil ihr Vater hier Arbeit fand. Mit 19 Jahren, nach dem Abitur, zog sie zurück in ihre überwiegend christliche Heimatstadt Beit Jala (bei Bethlehem), wo sie heute als Reiseleiterin arbeitet.

Faten Mukarker (64) ist eine palästinensische Friedensaktivistin, Reiseleiterin und Buchautorin. Die griechisch-orthodoxe Christin wuchs in Deutschland auf, weil ihr Vater hier Arbeit fand. Mit 19 Jahren, nach dem Abitur, zog sie zurück in ihre überwiegend christliche Heimatstadt Beit Jala (bei Bethlehem), wo sie heute als Reiseleiterin arbeitet. © privat, ARC


Osterer: Das stimmt so nicht. Es stimmt, dass die Oslo-Verträge ursprünglich auf fünf Jahre angelegt waren. Und natürlich war eine der offenen Fragen damals eine Einigung über die finalen Grenzen. Die Frage, warum Oslo gescheitert ist, kann man durchaus kontrovers diskutieren.

Schwere Verletzung des Völkerrechts?

Ich möchte trotzdem aus der Vergangenheit in die Gegenwart kommen. Und da ist es so, dass sich die israelische Regierung mit ihrer Rechtsauslegung international in einer extremen Minderheitenposition befindet. UN-Generalsekretär António Guterres spricht von einer schweren Verletzung des Völkerrechts. Selbst Israels Oberstes Gericht hat gerade erst die rückwirkende Legalisierung von tausenden Siedlerwohnungen im besetzten Westjordanland als "nicht verfassungsgemäß" verworfen.

Osterer: Ich bin kein Israeli und kann nicht für die Israelis sprechen. Aber sicher ist, dass es die große Mehrheit der Israelis zumindest nicht ablehnt, dass die großen Siedlungsblöcke – und um die geht es – dem Staat Israel untergeordnet werden. So auch mit dem Jordantal. Was das Oberste Gericht Israels angeht: Bei diesen Urteilen ging es vor allem um die sogenannten Outposts, die irgendwelche Siedler auf irgendwelchen Hügeln errichtet haben, die nicht unter israelischer Kontrolle stehen. Wir reden hier aber über Siedlungen wie Ma’ale Adummim, die vollwertige Städte sind und den einzigen Makel haben, dass sie noch nicht zum Kernland von Israel gehören.

Mukarker: ... weil sie nicht zum Kernland Israels gehören. Israel hat doch immer von der Fatah (der dominierenden Partei im Westjordanland; Anm. d. Red.) verlangt, sie solle Israel endlich anerkennen. In welchen Grenzen soll das denn geschehen?
Osterer: Das wäre Verhandlungssache. Es gibt aber noch eine andere Sache. Man muss Israel auch als jüdischen Staat anerkennen.
Mukarker: Aber da leben doch auch andere Leute. Wie kann man denn Religion mit dem Staat vermischen?
Osterer: Ein jüdischer Staat bedeutet ja nicht, dass die nicht-jüdischen Menschen dort plötzlich keine Staatsbürger mehr sind.
Mukarker: Aber warum muss man einen jüdischen Staat anerkennen? Kann man denn sagen, Deutschland ist ein christlicher Staat?
Osterer: Nein, aber der Iran ist zum Beispiel ein muslimischer Staat, oder Ägypten.
Mukarker: Willst Du den Iran mit Israel vergleichen? Muss man Staat und Religion nicht trennen?
Osterer: Nein, das muss man nicht. Das ist auch in Deutschland nicht so. Die anerkannten Religionsgemeinschaften in Deutschland finanzieren sich aus Steuergeldern. So ganz getrennt sind wir hier nicht.

Darf ich kurz einwerfen? Staatsgründer Ben Gurion würde sich wahrscheinlich im Grab herumdrehen bei der Vorstellung, dass Israel als jüdisch definiert wird.

Osterer: Dann lesen Sie mal die Unabhängigkeitserklärung, die David Ben Gurion selbst verlesen hat.
Mukarker: Die waren nicht religiös. Die waren Zionisten.

Ich möchte nochmal versuchen, in die Gegenwart zu kommen. Ein Friedensvertrag kommt normalerweise zustande, wenn zwei Seiten verhandeln und sich dann auf einen Kompromiss einigen. Der Nahost-Plan von US-Präsident Donald Trump ist nur mit einer Seite abgestimmt, mit Israel. Das ist doch keine Grundlage, oder?

Osterer: Stimmt schon. Aber die palästinensische Seite hat in den vergangenen Jahren jede Verhandlung verweigert.
Mukarker: Moment: warum? Ich sage es Dir. Eine Grundlage sollte ein Siedlungsstopp während der Verhandlungen sein. (Palästinenserpräsident) Mahmud Abbas hat gesagt: Ich kann nicht am Verhandlungstisch sitzen, wenn ich die Bagger Land roden höre.
Osterer: Und als es 2009/10 zehn Monate keine Siedlungsaktivitäten gab?
Mukarker: Das stimmt nicht. Die Siedlungen, die geplant waren, wurden weitergebaut. Auch die, die schon im Bau waren, wurden weitergebaut. Ich habe das mit eigenen Augen gesehen.

Trumps Plan

Stellen Sie sich vor, Sie wären Palästinenser, und dann bietet man Ihnen an, Sie geben das fruchtbare Jordantal auf und erhalten dafür Teile der Negevwüste. Würden Sie da einschlagen?

Osterer: Das ist eine hypothetische Frage.

Das ist Teil des Trump-Plans.

Osterer: Auch darüber kann man diskutieren. Aber auch die Palästinenser wissen: Israel kann die großen Siedlungsblöcke nicht wieder abgeben.
Mukarker: Aber das Jordantal ist unser Obstkorb. ..
Osterer:... und es ist Israels Sicherheitsgarantie. Hier treffen offenkundig zwei legitime Interessen aufeinander.

Zurück zur aktuellen Lage: Was passiert, wenn jetzt die israelische Seite beginnt, sich Teile des Westjordanlandes einzuverleiben?

Osterer: Meiner Meinung nach wird genauso wenig passieren wie bei der Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem (im März 2019; Anm. d. Red.) . Da haben alle geschrien, es wird eine neue Gewaltwelle geben, eine neue Intifada. Gar nichts hat’s gegeben.

Mukarker: (überlegt lange) Ich kann nicht leugnen, dass es eine Ermüdung gibt bei den Menschen. Irgendwann hat man die Nase voll von Krieg, Gewalt und Tod. Aber dass gar nichts passiert, glaube ich nicht.

Wenn Sie beide Politiker wären, welche Schritte würden Sie versuchen wollen, um zu einer Lösung zu kommen?

Mukarker: Ich wäre für ein Prinzip wie in Europa. Wenn ein Deutscher in Frankreich lebt, wählt er für Frankreich? Nein, er wählt – zumindest auf der nationalen Ebene – die deutsche Regierung. Jeder bleibt Israeli und Palästinenser, lebt in einem Staat und hat gleiche Rechte. Die israelischen Siedler, die meine Nachbarn sind, leben unter Zivilrecht, und wir leben unter Militärrecht. Ich möchte, dass alle unter Zivilrecht leben.

Osterer: Das europäische Modell ist keine Ein-Staaten-Lösung. Wenn ich ein israelischer Politiker wäre, wäre ich auf keinen Fall für eine Ein-Staaten- Lösung, denn dann würde ich sofort abgewählt.

"Wir sind im Grunde so gleich"

Aber Netanjahu hat zuletzt zwei Wahlkämpfe geführt mit der Aussage, er wolle keine Zwei-Staaten-Lösung mehr.

Osterer: Das bedeutet aber nicht automatisch, dass er eine Ein-Staaten-Lösung will. Es gibt auch Lösungen dazwischen. Ich glaube nicht an eine Ein-Staaten-Lösung, weil die Gräben längst viel zu tief sind.

Mukarker: Nein, wir sind im Grunde so gleich. Wir sind uns so nah. Weißt Du, mein Sohn war mal auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer. Am Ende hockte er nur mit den Israelis zusammen. Die waren ihm einfach am nächsten.
Osterer: Das verstehe ich. Ich kenne auch solche Beispiele, aber ich glaube, dass es sehr schwer ist, von individuellen Beispielen auf die kollektive Ebene zu schließen.
Mukarker: Ich spreche von einer Vision. Die Siedler werden dann nicht mehr Siedler genannt, sondern sie sind meine Nachbarn.

Osterer: Aber ich halte es für unmöglich, in einem Staat zwei Regierungen zu etablieren. Aber vielleicht fehlt mir die Fantasie.

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