Kommentar: Der Rassismus in uns betrifft die ganze Gesellschaft

11.6.2020, 09:43 Uhr
"Wann durchsucht ihr euch selbst?" Auch in der Polizei gibt es bundesweit rechtsextreme Netzwerke.   In Leipzig demonstrierten mehrere Hundert Menschen gegen Durchsuchungen der Sonderkommission Linksextremismus.

© Sebastian Willnow, dpa "Wann durchsucht ihr euch selbst?" Auch in der Polizei gibt es bundesweit rechtsextreme Netzwerke. In Leipzig demonstrierten mehrere Hundert Menschen gegen Durchsuchungen der Sonderkommission Linksextremismus.

Mit diesem Satz hat SPD-Chefin Saskia Esken eine hitzige Debatte angestoßen: "Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte." Sie griff damit die Diskussion auf, die nun, nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd, über die Arbeit der Polizei in den USA geführt wird.

Eskens Satz ist richtig. Aber er greift zu kurz. Denn ebenso hätte sie sagen können, dass es Rassismus auch in Vorstandsetagen gibt. In Gewerkschaften. In Kirchengemeinden. In Redaktionen. In Vereinen. In Familien. Und so weiter und so fort.


Rassismus in den USA: Live-Ticker nach dem Tod von George Floyd


Denn Rassismus betrifft die ganze Gesellschaft. Und deren einzelne Gruppen sind ein Spiegel dieser Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der sich Rassismus und Antisemitismus leider schon immer bei rund 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen lassen, in ungezählten Umfragen hält sich dieser Sockel.

Erkennbare Fortschritte - aber auch "racial profiling"

Muss man dies hinnehmen? Der Befund ist jedenfalls ernüchternd und frustrierend: Lässt sich gar nichts tun gegen fremdenfeindliches Denken? Sind alle Anstrengungen von Staat, Schulen und anderen Bildungsträgern vergebens?

Nein. Wer zurückblickt, sieht durchaus Fortschritte. Die Gesellschaft ist offener, toleranter, bunter geworden. Von "Spaghettifressern", wie die ersten italienischen Gastarbeiter geschmäht wurden, spricht heute niemand mehr. Internationale Belegschaften gehören zu den Erfolgsfaktoren von Firmen. Aber nach wie vor gibt es Defizite. Der Anteil an Migranten ist auch in den allermeisten Medienhäusern der Republik zu gering, entspricht nicht der Zusammensetzung der Gesellschaft.

Die Polizei in Deutschland lässt sich nicht mit der in den USA vergleichen. In Amerika ist der offene Rassismus zu vieler Polizisten in zu vielen Vergehen gegen Schwarze abzulesen. Allerdings gibt es auch hierzulande Übergriffe, "racial profiling", also die unbegründete häufigere Kontrolle von Migranten, rechte Netzwerke unter Beamten. Polizisten blicken mehr als andere auf die Schattenseiten des Lebens. Der Anteil von Migranten an manchen Straftaten ist höher als der von Inländern, das verschärft Stimmungen und (Vor)Urteile.

Zu oft eine Art Fußabtreter

Polizisten sind zu oft aber auch für zu viele eine Art Fußabtreter. Wenn Beamte bei ihrem Eintreffen erst mal beschimpft oder beworfen werden, hinterlässt das Spuren, die sich bei manchen im Verhalten niederschlagen. Da könnte mehr Wertschätzung für diese so wichtige Arbeit helfen – eine Arbeit, deren korrektes Funktionieren schließlich auch von jenen eingefordert wird, die gern mal Parolen gegen Polizisten rufen, posten oder sprayen.

Das kann natürlich nicht bedeuten, rassistische Ausfälle zu entschuldigen. Im Gegenteil. Aber eine Polizei, die sich noch mehr in der Mitte der Gesellschaft fühlen kann, könnte ihrer Arbeit gelassener nachgehen.


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