Medialer "Tunnelblick": Forscher üben harte Kritik an ARD und ZDF

18.8.2020, 15:03 Uhr
Schon die Häufigkeit der Sondersendungen vermittelte den Medienwissenschaftlern zufolge Zuschauern ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario.

© Caroline Seidel, dpa Schon die Häufigkeit der Sondersendungen vermittelte den Medienwissenschaftlern zufolge Zuschauern ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario.

„Sondersendungen wurden zum Normalfall und gesellschaftlich relevante Themen jenseits von Covid-19 ausgeblendet: Es war eine Verengung der Welt“, sagte der Medienforscher Dennis Gräf vom Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau dem Evangelischen Pressedienst (epd). Gemeinsam mit seinem Kollegen Martin Hennig hat Gräf mehr als 90 Sendungen von „ARD Extra“ und „ZDF Spezial“ untersucht und sie im Zeitraum von Mitte März bis Mitte Mai analysiert.

Die Wissenschaftler kamen zum Schluss, dass Journalismus differenzierter sein und Maßnahmen in der Corona-Pandemie auch grundsätzlich hinterfragen müsse. Dies sei in den Beiträgen der Öffentlich-Rechtlichen aber nicht geschehen, resümierten sie.

Gräf sagte, vielmehr überwiege das Bild: „Individuelles Wohl wird eingeschränkt für das überwiegende Wohl“. Auch die Berichterstattung in Bezug auf die Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen sei problematisch. Hier werde zu wenig differenziert und Menschen die fragten, ob die Maßnahmen noch adäquat seien, würden nicht von Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern getrennt.

Permanentes Bedrohungsszenario

Schon die Häufigkeit der Sondersendungen vermittelte den Medienwissenschaftlern zufolge Zuschauern ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario. Die Inhalte hätten dies noch verstärkt: Fußgängerzonen ohne Fußgänger seien gezeigt worden, leere Geschäfte, begleitet von Spekulationen über eine langanhaltende Krise, die aber noch gar nicht da sei. „Solche Bilder kennen wir aus Endzeiterzählungen und Zombiegeschichten“, sagte Gräf.

Hennig fügte hinzu, dass Normalbürger „immer aus der Perspektive von Leistung inszeniert“ wurden. „Immer wieder wurde von Helden des Alltags gesprochen, die ihre Berufsrolle ins Extreme übersteigern, Tag und Nacht für die Gesellschaft da sind und sich im übertragenen Sinne aufopfern für ein höheres Wohl.“ Als Beispiele nannte er Pflegekräfte oder DHL-Zusteller sowie die „Glorifizierung“ des Virologen Christian Drosten.

Sirenengeheul eingespielt

Home-Office bei gleichzeitiger Kinderbetreuung sei indes vor allem als problematisch dargestellt worden, weil „der üblichen Produktivität nicht nachgekommen werden“ könne. So fokussiere die Kamera etwa den liegen gebliebenen Abwasch. Insgesamt habe die Berichterstattung vor allem Einzelfälle gezeigt und emotionalisiert. Dabei biete doch die Krise eine Gelegenheit, das klassische Bild der Leistungsgesellschaft zu überdenken.

Hennig erläuterte, die Sondersendungen konstruierten eigenständige Modelle der Welt, vermittelten gewisse Werte und arbeiteten mit Zuspitzungen. Wenn aber Inszenierungsstrategien verwendet würden, „die wir von Hollywood-Blockbustern“ über gefährliche Viren kennen, würden die eigentlich als Dokumentationen gedachten Sendungen fast zum fiktionalen Format.

Dies war nach Angaben der Forscher bei einem „ZDF Spezial“ zu New Yorks Kampf gegen Corona zu sehen: Anstelle des originalen Hintergrundtons seien Musik und Sirenengeheul eingespielt worden bei schnell geschnittenen Bildern von Krankenhaus und Leichenwagen. Derartige Zuspitzungen seien dazu geeignet, die Grenze zwischen wahr und falsch verschwimmen zu lassen.

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