Merkels unerklärte Wende

21.3.2016, 20:26 Uhr

Wahlniederlagen für die CDU, ein in sich gespaltenes und in Europa isoliertes Deutschland – und Angela Merkel tut so, als ob sie das alles gar nichts angeht. Zumindest scheint es so. Unbemerkt von großen Teilen der Öffentlichkeit aber hat die Kanzlerin ihre Asylpolitik korrigiert – um ihre politische Zukunft zu sichern.

Dass sie den Bürgern davon nichts sagt, dass sie an ihrer Willkommens-Rhetorik festhält, hat einen anderen Grund: Die Kanzlerin schielt auf ihren Platz in den Geschichtsbüchern. Und dort steht, wer für seine Ideale eingestanden ist – und nicht, wer Ideale erst definiert und später aufgegeben hat.

Ende des Neuen Biedermeier

Wie ein Krämer hat Angela Merkel von Beginn ihrer Kanzlerschaft an politisches Kapital eingesammelt. Weil sie niemandem etwas zumutete und die Wirtschaft gut lief, erwarb sie sich großes Vertrauen in der Bevölkerung. Beobachter haben diese Zeit schon das Neue Biedermeier getauft.

Das ist seit 2015 passé — dem Jahr, in dem sich die Kanzlerin entschied, das mühsam angehäufte Kapital einzusetzen fürs Projekt Willkommenskultur, für ein Deutschland, das Fremden ein „freundliches Gesicht“ zeigt. Hätte sie dies nicht getan, man täte sich schwer, einen Grund zu finden, warum diese Kanzlerin in den Geschichtsbüchern stehen sollte.

Merkels Rhetorik ist geblieben, ihre Politik hat sich verändert: Die Bundesregierung hat unter ihrer Führung die Asylgesetze verschärft und Abschiebezentren eröffnet. Die Bundesregierung steckt maßgeblich hinter dem Flüchtlingspakt mit der Türkei, der Massenabschiebungen vorsieht. Und die Regierung setzt sich vehement dafür ein, die EU-Außengrenze bei Griechenland dichtzumachen. Die Kanzlerin, sie bewegt sich also doch.

Nur spricht sie darüber nicht. Gebetsmühlenartig argumentiert Merkel noch immer, es sei kaum möglich, die lange deutsche Grenze komplett zu schließen – fordert hinter den Kulissen aber genau das von Griechenland und der Türkei. Die Drecksarbeit, die sollen in Europa andere übernehmen.

Dass Merkels Strategie aufgehen könnte, hat viel mit dem zu tun, wie wir Geschichte wahrnehmen. Denn wer diese wirklich verstehen will, muss sich tief hineinknien in zeitgenössische Quellen, muss die Schriften von Historikern zu Rate ziehen. Oder besser gesagt: müsste. Denn kaum jemand nimmt diese mühsame Arbeit auf sich. Und so setzen sich in der breiten Öffentlichkeit oft die einfachen Erklärungen durch, die Geschichte wird zur bloßen Erzählung von Gut und Böse.

Der Erste Weltkrieg? Rücksichtslos entfacht vom deutschen Kaiserreich. Der Zusammenbruch der Sowjetunion? Direkte Folge der Aufrüstungspolitik Ronald Reagans. Die Reihe der monokausalen Erklärungen von Geschichte ließe sich endlos fortsetzen. Historiker wissen es besser, doch in der breiten Bevölkerung dringen sie nicht durch.

Auf diesen Effekt baut Angela Merkel. Sie muss hoffen, dass sie trotz ihrer Kurskorrekturen als die moralisch Überlegene in die Geschichte eingehen wird, als diejenige, die Europas Werte hochhielt, während Ungarns Premier Orbán vielleicht einmal der Platz des kleingeistigen und nationalistischen Widersachers beschieden ist.

Die Macht der Bilder

Man könnte jetzt einwenden, dass eine solche Debatte überflüssig ist. Doch das stimmt nicht. Denn die Flüchtlingskrise spricht Bände über die Macht der Worte und Bilder: Die Videos der mit Applaus begrüßten Flüchtlinge in München, die Selfies und warmen Worte der Kanzlerin haben dazu beigetragen, dass sich Menschen eingeladen fühlten und sich auf den Weg machten.

Die Kanzlerin arbeitet auf sinkende Flüchtlingszahlen hin. Funktionieren wird das aber nur, wenn sie darüber endlich klare Worte findet – auch über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit Deutschlands.

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