Nach der Hölle von Zwang und Gewalt das Glück erkämpft

10.9.2010, 00:00 Uhr
Nach der Hölle von Zwang und Gewalt das Glück erkämpft

© Timo Schickler

Das mit der allgemeinen Hochschulreife ist Sengül Obinger wichtig. Beim zweiten Gespräch erinnert sie noch einmal daran, dass sie jetzt tatsächlich studieren könnte. Jura zum Beispiel. Und wenigstens für ein Semester will sich die 36-Jährige vielleicht wirklich mal einschreiben. Einfach, um sich selbst vor Augen zu führen, dass sie es geschafft hat. Raus aus der Hölle ihres ersten Lebens. Hinein in ein zweites Leben als smarte Geschäftsfrau, glückliche Ehefrau und Mutter. Sengül Obingers Augen leuchten. Es ist, als würde sie baden im eigenen Erfolg. Ohne schlechtes Gewissen. Sie hat sich den Erfolg schließlich hart erkämpft.

Als Jugendliche steht Sengül oft am Zaun vor dem Haus im Knoblauchsland, das sie mit den Eltern und zwei Brüdern bewohnt, und sieht den deutschen Kindern beim Spielen zu. Sie darf nicht raus und mitspielen. „Ich habe mich eingesperrt und isoliert gefühlt“, erzählt die junge Frau rückblickend. „Und ich fragte mich, was ich in dieser Familie zu suchen habe. Ich sah mich nicht als Türkin, sondern als deutsches Mädchen.“

Ungenutzte Chancen

Die Eltern, die aus Anatolien zugewandert sind, um hier Geld zu verdienen, nicht um Deutsche zu werden, sehen das anders. Wenn die Tochter voller Stolz Einser aus der Grundschule nach Hause bringt, kann sie die Mutter damit nicht beeindrucken. „Sie war Analphabetin und hatte keinerlei Vorstellung von Schule.“ Die Chance, nach der vierten Klasse auf das Gymnasium zu wechseln, muss Sengül sausen lassen. „Es hieß zu Hause: Wir gehen nächstes Jahr sowieso zurück in die Türkei.“ Die Familie bleibt, Sengül geht auf die Hauptschule. „Ich wurde konsequent zur Dummheit erzogen.“ Und zum Leben in einer finsteren Parallelwelt. Wenn die Klasse auf Ausflug geht, darf Sengül nicht mit. Einladungen zu Geburtstagsfeiern von Schulfreundinnen muss sie ausschlagen. Verstöße gegen die strengen Regeln werden mit Schlägen geahndet.

Literatur öffnet dem Mädchen den einzigen Fluchtweg aus dem familiären Unterdrückungssystem. Sengül liest sich kreuz und quer durch die Schulbibliothek. „Nur in den Büchern und in meinen Tagträumen konnte ich weiterleben. In der realen Welt habe ich nicht existiert.“ Allenfalls als Küchenhilfe, als Haussklavin. Und gelegentlich als Dolmetscherin. Etwa wenn der cholerische Vater mal wieder Ärger mit der Polizei und der Justiz hat wegen einer seiner vielen Schlägereien. „Seine Strafakte war so hoch“, sagt Sengül Obinger und hält die Hand 20 Zentimeter über die Schreibtischplatte. Als Zwölfjährige erlebt sie vor Gericht den eindrucksvollen Auftritt einer Anwältin. Die Frau, die mit Aktentasche in der Hand den Saal betritt und vor der sogar Sengüls Vater Respekt hat, wird für das Mädchen zum Sinnbild eines erstrebenswerten Lebens. Und eines endlos weit entfernt scheinenden Ziels. Die gute Schülerin darf zum Schluss oft nicht mal mehr den Unterricht besuchen und geht schließlich ohne Quali von der Hauptschule ab.

Dass es im Leben immer noch etwas schlechter kommen kann, erlebt Sengül, als sie mit 17 erfährt, dass die Eltern in der Türkei bereits ihren zukünftigen Ehemann ausgesucht haben. Ein halbes Jahr fleht sie Vater und Mutter an, ihr die Zwangsheirat zu ersparen. Man hält ihr entgegen, sie bringe Schande über die Familie. Eine Todsünde. Sengül fügt sich in ihr Schicksal und heiratet mit 18 den entfernten Verwandten, der mittlerweile aus Ankara nach Nürnberg gekommen ist. „Ich dachte, ich muss das einfach aushalten, um mich dann irgendwann wieder scheiden zu lassen.

Brutale Orgien

Der junge Mann kompensiert seine Unsicherheit in der neuen Umgebung mit brutaler Gewalt. Die bekommt zunächst seine Frau ab. Und weil das zur Welt kommende Kind eine vom Vater ungeliebte Tochter ist, hat er bald noch jemanden zum Verprügeln. Immer wieder flieht Sengül vor den Misshandlungen und Erniedrigungen ins Frauenhaus. Wenn sie verzweifelt die Eltern um Hilfe anbettelt, wird ihr unmissverständlich erklärt, dass sie selbst die Schuldige sei. Wenn ein Mann seine Frau schlägt, so die einfache Logik der Familie, dann wird er seine Gründe haben.

Irgendwann weiß Sengül, die inzwischen als Putzfrau jobbt, dass ihr nur eine Berufsausbildung den Weg in ein besseres Leben ebnen kann. Beim Arbeitsamt erkundigt sie sich nach einer Ausbildung zur Steuerfachangestellten. Ein Beruf, der ihrem Traum von der Anwältin mit Aktentasche recht nahe kommt. Drei Aufnahmeprüfungen muss die junge Frau absolvieren. Alle drei besteht sie nicht. „Ich habe meiner Betreuerin dann erzählt, dass es bei mir nicht einfach um eine Ausbildung geht, sondern darum, mein Leben zu retten.“ Alle springen über ihren Schatten, und Sengül bekommt tatsächlich ihre Chance.

Sie lernt nachts

Dem Ehemann erzählt sie, es gehe ihr bei der Ausbildung nur um die paar Hundert Mark, die es dafür allmonatlich gibt. Dass sie es ernst meint, darf er nicht merken. Sengül lernt nachts, wenn ihr Mann bereits schläft. Obwohl die häuslichen Gewaltorgien weitergehen und die junge Frau manchmal kaum mehr die Kraft hat weiterzumachen, besteht sie schließlich ihre Abschlussprüfungen. „Ich habe geschrien vor Glück, als ich das Schreiben mit dem Prüfungsergebnis aus dem Briefkasten geholt habe.“

Sengül tritt eine Stelle in einer Steuerkanzlei an. Die ersehnte neue Welt tut sich vor ihr auf. Zu Hause eskaliert gleichzeitig der Terror. Sengül reicht endlich die Scheidung ein. Ihr Mann schlägt sie auf offener Straße krankenhausreif, flüchtet zu seiner Familie in die Türkei und holt dort Rat ein, was mit einer „Schlampe“ wie seiner Frau zu geschehen habe. Die Verwandtschaft besorgt ihm eine Pistole und schickt ihn zurück nach Deutschland. Sengül soll sterben.

In Nürnberg spürt der vor Wut rasende Ehemann Sengül im Haus der Eltern auf, ballert wild um sich und wird erst vom mit einer Axt bewaffneten Schwiegervater gestoppt. Er flüchtet in seine Wohnung, zertrümmert die Einrichtung, legt Feuer und erschießt sich. Sengüls Martyrium hat am 7.August 1997 ein Ende.

Nicht jedoch ihr Leid. Vermutlich durch die Schläge des Vaters ist die heute 17-jährige Tochter körperlich und geistig behindert. Sengül selbst braucht viele Jahre und die Hilfe eines Psychotherapeuten, bis sie ihre traumatischen Erlebnisse einigermaßen verarbeitet und sich stabilisiert. Woher kam die ungeheure Kraft, mit der die junge Frau ihr zweites Leben in Angriff nahm? „Ich habe immer den Wert meiner Freiheit erkannt.“ Mit großem Ehrgeiz treibt die ehemalige Hauptschülerin ihre berufliche Karriere voran. Sie absolviert eine zweite Ausbildung zur Personalfachkauffrau, arbeitet als Personalchefin eines Unternehmens, leitet seit einiger Zeit freiberuflich eine Lohnsteuer-Beratungsstelle, ist zur Bezirksleiterin aufgestiegen und ist zusätzlich noch in einer Steuerkanzlei tätig.

Den Traummann gefunden

Krönen möchte sie ihre Laufbahn mit der Prüfung zur Steuerberaterin. Die kühnen Träume der Kindheit hätten sich dann erfüllt. Der von der Aktentasche ist ausgelebt. „Ich hab sechs verschiedene Modelle.“ Auch privates Glück hat die junge Frau gefunden. „Ich habe meinen Traummann geheiratet und einen entzückenden kleinen Sohn.“ Zu den in die Türkei zurückgekehrten Eltern hat sie keinen Kontakt. „Ich will das nicht mehr. Sie haben mir zu viel angetan.“

Bei allem Stolz auf die hart erkämpfte Wende im eigenen Leben versinkt Sengül Obinger nicht in pomadiger Selbstzufriedenheit. Sie möchte anderen Jugendlichen, die glauben, keine Zukunft zu haben, gerne aufzeigen, „wie man mit starkem Willen über alle Barrieren hinweggehen kann“.

Nicht nur Migranten-Kinder, ist sie überzeugt, könnten davon profitieren. Und erst recht nicht nur Muslime. „Mit dem Islam hatte mein Unglück nichts zu tun. Mein Mann war kein gläubiger Mensch.“ Patriarchalische Denkweisen und die elterliche Bildungsferne raubten ihr Freiheit und Entwicklungschancen. Solche Haltungen gibt es auch in deutschen Milieus. Sengül Obinger hat sich viele Gedanken gemacht, wie der Staat mit Hilfestellung, aber auch mit der strengeren Forderung nach Gegenleistungen auf solche Probleme reagieren müsste. „Ich möchte mich gerne in die Politik einmischen“, sagt sie selbstbewusst. Es wäre ein Gewinn. Denn Sengül Obinger weiß bei einem Thema wie Integration, wovon sie spricht.