Natascha Kohnen: Der lange Abschied einer Hoffnungsträgerin

14.11.2020, 14:50 Uhr
Zwei Jahre nach der Niederlage bei der Landtagswahl tritt Natascha Kohnen, die Vorsitzende der Bayerischen SPD zurück.

© Anja Hinterberger Zwei Jahre nach der Niederlage bei der Landtagswahl tritt Natascha Kohnen, die Vorsitzende der Bayerischen SPD zurück.

"Das Ende der Einsamkeit" ist ein verführerischer Titel, einer, der leicht auf die falsche Spur führt. Natascha Kohnen mag das Buch, sie schätzt den Autor Benedict Wells, seinen Stil. Es wäre naheliegend, dass der Titel für den neuen Abschnitt in ihrem Leben steht, jetzt, da sie das Ende ihrer Zeit als Chefin der BayernSPD angekündigt hat, jetzt, nach nur 30 Monaten an der Spitze.

Wer die SPD führt, der führt ein einsames Leben. Kohnens Vorgänger haben das alle beklagt, dass ihre Partei sie nach vorne schiebe, sie als Heilsbringer feiere. Und dann dort verhungern lasse. Sie selbst sagt das nicht über sich und ihre SPD. Im Wahlkampf, sagt die 53-jährige, habe sie "so viel Freunde und Zuneigung" erlebt, das sei jetzt "vielleicht kitschig, aber ich liebe diese Partei".

Im Buch lebt der Protagonist Jules sein einsames Leben bis zur letzten Seite. Wells schafft tragische Figuren in einer depressiven Welt. Es könnte ein Synonym für die bayerische SPD sein. Seit den 1990er Jahren steckt sie in einer Abwärts-Spirale fest und taumelt von schlechtem zu katastrophalen Ergebnis. Den Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt verbindet die Partei ausgerechnet mit Natascha Kohnen. 2018 führt sie ihre Partei als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf – und in den einstelligen Bereich.

So etwas muss ein Mensch erst einmal verkraften. Kohnen schöpft einen guten Teil ihrer Stärke aus der Familie. Sie lebt in Neubiberg, in einer Doppelhaushälfte am Waldrand. Das Haus ist ihr Rückzugsort; die Politik hält sie so gut es geht draußen vor der Tür. "Das muss ich", sagt sie, "sonst gehe ich irgendwann in die Knie." Das Haus sei trotzdem offen für Freunde und Familie, auch für Parteifreunde. "Aber es ist kein Berufsraum. Es ist meine Lebenswelt."

Ein Harter Wahlkampf

So sitzt sie also auf dem grauen Sofa in ihrem Fernseher-losen Wohnzimmer, trinkt selbst gemachten Kräutertee und erzählt. Sie erzählt, wie "extrem hart es im Wahlkampf" gewesen sei. Und wie wichtig ihre Kinder als Stütze sind. Und natürlich ihr Lebensgefährte, mit dem sie seit einigen Jahren zusammen ist, der wie ihr Sohn die Öffentlichkeit meidet, anders als ihre Tochter Hannah, die sie auch zu politischen Terminen begleitet. 22 Jahre hatte die Ehe mit dem Vater ihrer Kinder gehalten, bis 2008. Dann ist sie zerbrochen.

Dass der Wahlkampf so hart gewesen ist, sagt die Noch-Parteichefin, habe weniger an der bayerischen SPD gelegen, auf ihre Leute hier lässt sie nichts kommen. Es war, wieder einmal, die Bundesebene. Nicht nur Kohnen fühlt sich von ihr verraten; alle Spitzenkandidaten haben stets die Klage geführt: Bayern sei ein Spezialfall, die CSU dank ihrer Sonderstellung ein übermächtiger Gegner mit enormen finanziellen Mitteln; Rückenwind aus Berlin aber fehle.

Kohnen macht das an der Auseinandersetzung über die Flüchtlingspolitik fest, die das Jahr 2018 dominiert hat. Wäre es nach ihr gegangen, die SPD hätte sich in Berlin schärfer von Innenminister Horst Seehofer und seiner CSU abgegrenzt. Sie hat es nicht getan und sich in der Folge mit der damaligen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles überworfen.

Geholfen hat das ihr für den Wahlabend nicht. Schon am Nachmittag war den Sozialdemokraten klar, dass sie vor einer historischen Niederlage stehen. 9,7 Prozent der Wähler gaben am Ende der SPD ihre Stimme, Platz fünf unter den sechs Fraktionen. Von dem Erfolg einer Renate Schmidt ist die einst so stolze Partei meilenweit entfernt. 1994 hatte die Nürnbergerin 30 Prozent geholt – ein Wert, den die Partei in den 26 Jahren danach nie mehr erreicht hat. Schmidt hat Kohnen nahe gelegt, sie solle ihren Posten räumen, ebenso Münchens Ex-OB Christian Ude, der freilich bei der Wahl 2013 ebenfalls als Spitzenkandidat nicht reüssiert hat.

Kohnen ist geblieben, doch es war ein langer, mühsamer Prozess. Sie klebe nicht an ihrem Posten, hatte sie nach der Niederlage verkündet, ihn gleichwohl nicht geräumt. Es habe keinen Nachfolger gegeben, sagt sie. Und sie habe in die Partei hineingehört und viele Stimmen vernommen, die sie zum Bleiben aufforderten. Nun ist noch keine Partei ohne Vorsitzenden geblieben; doch irgendwie glauben die meisten Spitzenleute, sie müssten ihre Nachfolge regeln und sie nicht den freien Kräften überlassen. Im Dezember 2018 verkündete Kohnen schließlich, dass sie weiter macht. Im Januar 2019 bestätigte sie der Parteitag. Da wusste sie schon, dass sie nur noch zwei Jahre bleiben wird. Danach ist es still um sie geworden. Andere dominieren das öffentliche Bild der SPD.

"Politik ist nicht mein Lebenstraum"

"Politik ist nicht mein Lebenstraum", sagt sie. "Ich hatte immer ein Leben neben der Politik." Teil dieses Lebens ist der grüne Ohrensessel, der im Wohnzimmer steht, unweit des Schwedenofens, ein optischer und intellektueller Fixpunkt. In ihn zieht sie sich zurück und liest. Bücher dominieren das Wohnzimmer, die Regale ziehen sich durchs ganze Haus, mit hunderten Werken ihrer Lieblingsautoren, von Benedict Wells über Henning Mankell bis Arno Geiger.

Eigentlich hat die gebürtige Münchnerin Biologie studiert und mit Diplom abgeschlossen. Doch danach wusste sie nicht wohin. Die zweite Frau ihres Vaters, "meine zweite Mutter", habe sie gefragt, was sie liebe. Dann war die Entscheidung klar. Kohnen bewarb sich auf gut Glück bei vier Verlagen als Lektorin. Alle sagten zu. Es ist eine der Lehren, die sie von ihren Eltern der 68er-Generation mitgenommen und an ihre Kinder der Millenium-Generation weitergegeben hat: "Frauen dürfen nie abhängig werden von ihren Männern, sie müssen selbstständig sein, gleichberechtigt, auf Augenhöhe. Leider ist das nicht selbstverständlich." Feministisch nennt Kohnen das, doch der Kampfbegriff trifft es eigentlich nur begrenzt.

Sie selbst, sagt sie, habe Diskriminierung in der Politik nicht erlebt. Zumindest nicht in ihrer Partei. Wobei die Art, wie sich die SPD von Andrea Nahles getrennt hat, wie sehr manche aus den eigenen Reihen nachgetreten haben, die fand sie erbärmlich. "Das hatte nichts mit Anstand zu tun", sagt Kohnen. "Ich bringe meinem Gegenüber immer Respekt entgegen. Das will ich umgekehrt dann aber auch haben." Nach Markus Söder und seinem Umgang mit ihr gefragt, kommt ihr kein böses Wort über die Lippen. "Höflich, respektvoll" sei er immer gewesen, sagt sie. "Der hat sich mir gegenüber nie im Ton vergriffen." Natürlich kauft sie ihm sein neues Gesicht nicht ab, sie hält seinen Wandel vom Polit-Rabauken zum väterlichen Staatsmann für inszeniert. So weit ist sie doch noch SPD-Chefin, auch in der Niederlage, die sie seit zwei Jahren begleitet wie ein Fluch.


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Das Ergebnis schmerze sie bis heute, sagt sie. "Ich wollte so viel anpacken und verändern." Statt dessen hat sie zwei Jahre darauf verwandt, ihre Partei zu stabilisieren und durch zwei weitere Wahlen zu führen – und zumindest bei der Europawahl ins nächste Desaster. Nicht einmal mehr die Hälfte der Stimmen hat die SPD bekommen, die mit 9,3 Prozent noch unter dem Landtagswahlergebnis geblieben ist. Wenigstens bei den Kommunalwahlen haben die Sozialdemokraten unter Kohnen nicht gar so schlecht abgeschnitten. Doch Kommunalwahlen folgen ihren eigenen, lokalen Regeln.

Was das mit ihr gemacht hat? Nichts, sagt sie. Die bayerische SPD, argumentiert sie, könne sich vom Bundestrend nicht lösen, sie steigt und fällt mit der Mutterpartei. Demoskopen hätten ihr bestätigt, sagt sie, dass Spitzenkandidaten eine Wahl kaum beeinflussen könnten. Und niemand habe ihr nach der Wahl vorgeworfen, sie habe versagt.

Es ist ein vertrauter Argumentationsstrang, nicht nur aus der SPD. Markus Söder etwa hat sich 2018 als CSU-Spitzenkandidat ganz ähnlich verteidigt, nachdem er für seine Partei ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren hatte. Alle Parteien, sagt Natascha Kohnen, auch die großen Volksparteien, müssten sich darauf einstellen, dass sie an ihre alten Erfolge nicht mehr anknüpfen könnten. "Ergebnisse unter 25 Prozent werden normal sein", sagt sie voraus und plädiert dafür, dass an die Stelle klassischer Koalitionen themenorientierte Zweckbündnisse treten müssten, mit Minderheitenregierungen und wechselnden Mehrheiten.

Ein Wechsel nach Berlin kommt nicht in Frage

Ob sie das in ihrer aktiven Zeit als Politikerin noch miterleben wird – offen. Kohnen schließt für ihre Zukunft wenig aus und bestätigt kaum mehr. Nach Berlin wechseln, sagt sie, werde sie auf keinen Fall. Sie will im Landtag bleiben, vorerst jedenfalls, und sich um die Themen Wohnen und Bauen kümmern. Sie hält sie für einen Kern der sozialen Gerechtigkeit und damit für eine zentrale Aufgabe der SPD. Im Wahlkampf hat das Thema nicht verfangen, es lockte die Bayern nicht zur SPD, so sehr Kohnen auch dafür einstand.

Auf dem nächsten Parteitag wird sie den Stab nun übergeben, an den nächsten Hoffnungsträger der SPD. Geht es nach ihr, wählt die bayerische SPD zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Doppelspitze. Frauen, sagt sie, führten anders, egal ob in Unternehmen oder Parteien. Sie seien empathischer, wägten ab, erklärten ihre Pläne. Untersuchungen bestätigen, dass Unternehmen mit einer Doppelspitze erfolgreicher sind als Männer-geführte Betriebe. Die Ausnahme bleiben sie trotzdem.

Was Kohnen als Vorteil sieht, finden viele Männer einen Nachteil. Frauen, sagen sie, seien zu zögerlich. Kohnen hat das vorgelebt, als Parteichef Florian Pronold sie 2009 fragte, ob sie seine Generalsekretärin werden wolle. "Ich habe tatsächlich drei Monate lang nachgedacht und mich gefragt: Krieg ich das hin, werde ich meinem eigenen Anspruch gerecht, mach ich das auch gut." Erst als ein Freund sie fragte, ob sie tatsächlich glaube "dass ein Mann über so etwas auch nur nachdenkt", hat sie sich entschieden und zugesagt.

Das ist eine Ewigkeit her. Heute hat Natascha Kohnen nur noch ein Problem: Sie weiß nicht genau, wann sie gehen darf. Die Corona-Pandemie macht allen Parteien einen Strich durch ihre Pläne. Und so kann es sein, dass sie weit länger im Amt bleiben muss, als sie will. Natascha Kohnen und die SPD – sie kommen nicht voneinander los.

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