Überfüllte Asyl-Unterkünfte

Ohne Grenzen geht es nicht: Deutschlands Migrationspolitik braucht mehr Realismus

Manuel Kugler

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25.9.2023, 14:55 Uhr
Unterkünfte für Geflüchtete am Columbiadamm auf dem Tempelhofer Feld in Berlin: Das Land ist in der Migrationsfrage keineswegs so gespalten, wie es die Berliner Politik-Blase ist.

© Lena Lachnit, dpa Unterkünfte für Geflüchtete am Columbiadamm auf dem Tempelhofer Feld in Berlin: Das Land ist in der Migrationsfrage keineswegs so gespalten, wie es die Berliner Politik-Blase ist.

Es gibt Menschen, die dem kindlichen Glauben anhängen, man müsse die Augen vor einer Sache nur lange genug verschließen - und die Sache selbst verschwinde. Ein Glauben, der auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu beobachten ist: Findet sich unter Rechten die erstaunliche Fähigkeit, die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels mit allerlei Dingen außer eben diesem Klimawandel zu erklären, lässt sich bei Linken ähnliches in der Migrationsfrage beobachten.

Insofern war es erwartbar, was der "Spiegel" auslösen würde, als er auf seinem Cover nun eine einfache Frage stellte: Schaffen wir das noch mal? Rechtspopulisten würden damit gestärkt, lautete der Vorwurf. Als ob die Debatte verschwindet, wenn sie von Medien und Politik ignoriert würde. Denn sie wird längst geführt: an den Familientischen, im Wirtshaus, in den Vereinen.

Söders "Integrationsgrenze": Ein Aufschrei bleibt diesmal aus

Das Erstaunliche: Das Land ist keineswegs so gespalten, wie es die Berliner Politik-Blase ist. 84 Prozent der Menschen in Deutschland sagen laut einer Civey-Umfrage, dass derzeit zu viele Asylbewerber nach Deutschland kommen. Über Parteigrenzen hinweg fordern alle bayerischen Landräte eine Begrenzung der Migration - weil die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit erschöpft seien. Und Markus Söder kann eine "Integrationsgrenze" von 200.000 Menschen fordern, ohne einen Aufschrei wie einst Horst Seehofer mit seiner "Obergrenze" zu ernten.

Es hat sich seit 2015 also etwas verändert im Land. Die Argumente mancher Wirtschaftsführer, die in dem Zustrom ein Reservoir an Arbeitskräften entdecken, selbst aber keine Antwort auf die Frage geben müssen, wo diese Menschen wohnen und wie sie integriert werden sollen, sie wollen nicht mehr so recht überzeugen. Gleichzeitig stößt das Individualrecht auf Asyl bei 108 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht schlicht an faktische Grenzen. Wer es erhalten will, muss Wege dorthin aufzeigen.

Ein perverses System: Nach Europa schafft es nur, wer sein Leben riskiert

Zur Wahrheit gehört: Das ist einfacher gesagt als getan. Der große, faire Wurf - eine Prüfung der Asylanträge vor Einreise in die EU, der Schluss machen könnte mit der perversen, darwinistischen Realität, in der es nur nach Europa schafft, wer sein Leben riskiert - ist ein Generationenprojekt. Kurzfristig Linderung verschaffen womöglich pragmatische Ansätze. Einer von ihnen: das Pilotprojekt "Match'In" unter Federführung der Erlanger Migrationsforscherin Petra Bendel, das der ungleichen regionalen Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Deutschlands mithilfe eines Algorithmus beikommen will.

Was Deutschland jetzt braucht, ist beides: die Umsetzung pragmatischer Ansätze und eine Bereitschaft, auch unangenehme Debatten, von Bürgergeld bis Abschiebung, zu führen. Die Augen zu verschließen in der Hoffnung, dass wir das schon irgendwie schaffen, wird jedenfalls nicht funktionieren.

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