Palmer: "Wir müssten die Corona-App aufrüsten"

8.11.2020, 11:15 Uhr
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Herr Palmer, Tübingen geht in Sachen Corona einen Sonderweg – beschreiben Sie bitte Ihren "Tübinger Appells"

Boris Palmer: Wir wollen die älteren Menschen durch freiwillige Unterstützungsangebote besonders gut schützen. Deshalb gibt es in Tübingen schon seit April ein eigenes Taxi-System für Ältere zum Preis einer Busfahrkarte. Mit dem Einzelhandel haben wir ein Zeitfenster am Morgen von neun bis elf Uhr vereinbart, das für die Älteren zum Einkaufen reserviert sein soll. Neu hinzu kam nun, dass wir alle über 65-Jährigen auf Kosten der Stadt mit einer medizinischen Schutzmaske ausstatten, die im Gegensatz zu den Stoffmasken auch einen Eigenschutz hat. Unser Ansatz ist also: Mehr Schutz für diejenigen, die besonders häufig ein Intensivbett benötigen, wenn sie an Corona erkranken.

Der Landesseniorenrat wirft Ihnen Stigmatisierung der Älteren vor…

Palmer: Der Stadt- und der Kreis-Seniorenrat hier vor Ort unterstützen unser Konzept, von Anfang an. Die Kritik speist sich in der Regel aus Unkenntnis. Der Landesseniorenrat fragt, was denn eigentlich der Vorteil sei, wenn man allein mit dem Taxi fährt. Die Antwort ist klar: Schulen und Kitas sind geöffnet, wir haben eine Universität in der Stadt, unter der jungen Bevölkerung wird das Virus weiter zirkulieren. Da ist es nicht sehr ratsam, sich in einen vollen Bus zu setzen, wenn man selbst zur Risikogruppe gehört. Wo da eine Stigmatisierung sein soll, erschließt sich mir nicht.

Sehen Sie denn an den Infektionszahlen, dass sich der "Tübinger Appell" lohnt?

Palmer: In einer Hinsicht ja: Ein zentraler Punkt unseres Konzeptes ist nicht freiwillig, sondern verpflichtend. Nämlich Tests für das Personal in der Altenpflege. Die haben wir Anfang September eingeführt auf Kosten der Stadtkasse, meines Wissens als einzige deutsche Stadt. Und wir sehen: Es gibt in Tübingen nach wie vor keine Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen, während wir um uns herum in der Region in vielen Einrichtungen eine hohe dreistellige Zahl an Infektionen in Heimen registrieren. Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind, besonders gefährdete Menschen besser zu schützen.

Bekamen Sie Anfragen aus anderen Städten, die Ihren Weg übernehmen wollen?

Palmer: Anfragen schon, übernommen hat das so aber meines Wissens noch keine andere Stadt. Tübingen ist die einzige Kommune, die versucht, die allgemein praktizierte Strategie der rigiden Kontaktbeschränkung für alle zu ergänzen durch eine sehr viel effektivere Schutzstrategie für jene Menschen, für die Corona besonders gefährlich ist. Ich finde diese zweite Säule auch deshalb so wichtig, weil gar nicht sicher ist, dass wir im Winter mit den allgemeinen Kontaktbeschränkungen die Intensivstationen vor der Überfüllung schützen können. Der Lockdown hat massive wirtschaftliche und gesundheitliche Nebenwirkungen. Wenn es uns gelingt, diese Folgen etwas moderater zu halten, weil wir die Hochrisikogruppe besser schützen, haben wir für alle etwas gewonnen.

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Kürzlich kritisierten Sie einen "Lockdown des Denkens". Was meinen Sie damit?

Palmer: Die Debatte wird meines Erachtens verengt geführt. Verantwortlich handeln demnach nur diejenigen, die möglichst massive Kontaktbeschränkungen wollen. So, wie Karl Lauterbach oder Markus Söder. Als verantwortungslos gelten dagegen alle, die sich – wie ich – Gedanken machen, ob es bessere Wege gibt, ob wirklich allgemeine Kontaktbeschränkungen mit ihren enormen Nebenwirkungen der beste Weg sind. Wer wie etwa Taiwan oder Südkorea ganz intensive Kontaktverfolgungen anpeilt, wer fragt, ob die Schweden nicht doch ganz gut durch die Pandemie gekommen sind, wer wie ich besonders auf den intensiven Schutz der Risikogruppen setzt, ist deswegen nicht verantwortungslos.

Südkorea und Taiwan setzen sehr auf die Erfassung personenbezogener Daten, um Infektionsketten nachzuverfolgen. Da funktioniert eine Corona-App ganz anders als unsere, deren Möglichkeiten der Datenschutz sehr einengt…

Palmer: Die App schützt nur unsere Daten, aber nicht vor dem Virus. Der Datenschutz verursacht hier unfassbare ökonomische Schäden und er kostet Leben. Ich selbst hätte überhaupt keine Schwierigkeiten damit, meine Daten wie in Taiwan oder Südkorea verwenden zu lassen. Dort liegt die Zahl der Infektionen deutlich unter einem Prozent unserer Infektionszahlen. Das heißt: Kontaktverfolgung ist schneller als das Virus – wenn man das mit High Tech macht. Unsere Zettelwirtschaft in den Ämtern ist dagegen langsamer als die Infektionszeit.


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Das würde eine massive Aufrüstung der App bedeuten. Wer macht da mit?

Palmer: Ich habe mit Freude gelesen, dass Markus Söder sagte, die App sei ein zahnloser Tiger. Also würde ich mir wünschen, dass er als bayerischer Löwe springt und dafür sorgt, dass die Datenschutzbedenken fallen. Die Gesundheitsämter müssten endlich umfassenden Zugriff auf die Daten bekommen. Wenn wir die App derart aufrüsten, ist das meines Erachtens die einzige Chance, noch im Winter die Kontaktbeschränkungen loszuwerden. Sonst fürchte ich, dass wir bis April uns damit rumschlagen müssen. Das wird dann kein schöner Winter.

Bis April, sagen Sie… Glaubt noch jemand daran, dass der aktuelle Lockdown light wirklich nur vier Wochen dauern soll?

Palmer: Da muss man sich über das Ziel unterhalten. Wenn es um die Kapazität der Intensivstationen geht, dann reicht es, die aktuellen Zahlen zu stabilisieren. Wenn es aber das Ziel sein sollte, wieder unter eine Inzidenz von unter 50 zu kommen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass der aktuelle Teil-Lockdown dies bis Ende November leistet. Und dann wäre die logische Konsequenz eine erhebliche Verlängerung. Das aber hätte gravierende Auswirkungen. Deshalb sage ich: Wir sind geradezu verpflichtet, uns mehr Gedanken über bessere Wege zu machen. Das vermisse ich.

Sie haben Schweden erwähnt. Doch die Todeszahlen dort sind deutlich höher als in Deutschland…

Palmer: Ja. Aber sie sind geringer als in Belgien, Italien oder Frankreich, auch die USA sind in der gleichen Liga. Lockdowns sind nicht immer der Königsweg, sie retten nicht immer Leben. Deutschland schnitt sehr gut ab bisher, da war viel Glück dabei und gutes Timing. Global gesehen, gibt es Berechnungen, die besagen, dass die Lockdown-Strategie mehr Menschenleben gefährdet als rettet.


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Anfang Mai standen Sie fast vor dem Rausschmiss bei den Grünen – wegen dieses Satzes: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen". Würden Sie den Satz so wiederholen?

Palmer: Ich würde ihn anders formulieren. Im Kern aber hat er lediglich einen empirischen Befund beschrieben: Man kann heute davon ausgehen, dass in Deutschland die verlorene Lebenszeit der Corona-Toten etwa bei drei Jahren liegt. Das zeigt: Das Virus ist extrem altersdiskriminierend. Das Risiko, an Corona zu sterben, ist mit über 80 Jahren 500mal höher als unter 40. Es ist kennzeichnend für die öffentliche Debatte, dass meine Aussagen aus dem Kontext gerissen werden. Damals wurde mir deswegen unterstellt, ich würde das Leben Älterer geringschätzen oder gar der Euthanasie das Wort reden. Das war unverschämt fehlgedeutet und durch den Kontext eindeutig widerlegt.

Sind diese zugespitzten Debatten, die oft einen shitstorm auslösen – Sie kennen sich damit ja aus – , eine Folge der Krawall-Diskussionen in den sozialen Netzwerken?

Palmer: Es ist jedenfalls Ausdruck einer Debatten-Unkultur, dass man lieber verurteilen als verstehen will. In den USA hat man das zur Perfektion getrieben. Da können die Lager fast gar nicht mehr miteinander diskutieren, weil sie sich nicht mehr als Streitpartner, sondern als Feind betrachten. Ich beobachte Ähnliches bei uns mit großer Sorge – nicht nur, wenn es mich betrifft.

Sie stoßen aber schon gern Debatten an, ecken auch gern an… Juckt es Sie da ab und an, für Schlagzeilen zu sorgen?

Palmer: Ich hab‘ da einen blinden Fleck: Ich bin einfach nicht bereit, mit der Schere im Kopf zu denken. Ich spreche Dinge so aus, wie ich sie sehe.

Auch zum Thema Ausländerkriminalität haben Sie sich des Öfteren pointiert geäußert. Wie sehen Sie, nach den Anschlägen von Nizza, Wien oder auch Dresden, den islamistischen Terror?

Palmer: Ich habe mit großer Freude registriert, dass der prononciert linke Kolumnist Sascha Lobo darauf aufmerksam gemacht hat, dass wir hier mit doppelten Standards arbeiten, also Dinge sehr unterschiedlich einordnen. Also: Würden vergleichbare Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund verübt, dann hätten wir eine Riesen-Debatte. Dann würde das gesamte Internet toben. Wenn aber die Verantwortlichen einen islamistischen Hintergrund haben, dann herrscht dröhnendes Schweigen. Das tut niemandem gut. Denn es gibt keine bessere oder schlechtere Gewalt aufgrund eines unterschiedlichen politischen Hintergrunds. Gewalt ist an sich nicht akzeptabel. Da müssen Demokraten immer laut aufstehen – egal, ob sie von Neonazis kommt oder von Islamisten. Terror von rechts darf nicht anders bewertet werden als Terror von Islamisten.

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