Prognosemodell

Plötzlich anders: DIVI-Prognosemodell nachträglich korrigiert

19.5.2021, 11:16 Uhr

"Rückblickend ist es faszinierend, wie genau die Kurven des DIVI-Prognosemodells mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Ende April war der Spitzenwert mit 5.122 belegten #Intensivbetten erreicht, heute sinken die Zahlen zum Glück weiter.” - mit diesem Tweet veröffentlichte die DIVI am 13. Mai ein aktualisiertes Prognosemodell zur Zahl der belegten Intensivbetten in Deutschland. Nur wenig später wurde die Bewertung durch andere Twitter-Nutzer kritisiert. Die Kurven des Modells hätten vor einigen Wochen noch anders ausgesehen, außerdem sei die im Modell angenommene Notbremse bei einer Inzidenz von 150 nie in Kraft getreten. Wir haben mit dem Urheber des Modells, Andreas Schuppert von der RWTH Aachen, gesprochen und ihn mit den Vorwürfen konfrontiert.

Herr Schuppert, in dem Tweet der DIVI heißt es, ihre Prognose sei exakt so eingetroffen wie vorhergesagt, mit der Begründung, die Zahlen der aktuellen Entwicklung lägen auf der blauen Kurve. Aber diese Kurve sah vor einigen Wochen noch anders aus. Wurde sie im Nachhinein verändert?


Andreas Schuppert: Ja. In den Modellen sind Impfstrategien eingebaut. Ich denke, dass die Impfungen heute schon einen deutlichen Effekt zeigen. Die Daten hierzu sind im Modell eingebaut. Der Unterschied ist, dass wir Ende März neue Daten zum Impfszenario bekommen haben, als viele Personen bereits die erste und zweite Impfung erhalten hatten. Damit haben wir das Modell geupdatet. Die tatsächlichen Impfzahlen waren niedriger als die, mit denen wir zuvor gerechnet hatten. Das heißt, wir hatten weniger Impfeffekt und dadurch haben sich die Kurven nach oben verschoben.

Finden Sie es dann aber nicht irreführend, zu behaupten, Ihre Prognosen seien eingetroffen, wenn die Zahlen hinterher angepasst wurden?

Schuppert: Prognosen beziehen sich immer auf Szenarien, das gilt für sämtliche Modelle dieser Art. Wenn wir innerhalb eines Szenarios bleiben und keine Änderungen machen, dann kann man die Qualität eines Modells daran testen, ob dann die Prognosen eintreffen. Wenn sich Szenarien ändern, wird sich natürlich auch die Prognose des Modells ändern, weil die Voraussetzungen anders sind. Das Verblüffende ist: Das Modell war sehr gut zwischen Januar und jetzt Anfang April, da haben wir den Verlauf eigentlich sehr gut erwischt.

Ich kann mich noch erinnern, ich habe Mitte Januar bereits gesagt, wir werden Anfang Februar oder März von oben dann die 4000er durchschlagen, da hat sich noch keiner getraut zu sagen, dass der Lockdown vom Dezember wirken wird. Das Modell hat schon sehr früh ziemlich genau gestimmt.

Aber es gab nie eine Notbremse bei einer Inzidenz von 150, die ja bei der blauen Kurve angenommen wird?

Schuppert: Da haben Sie recht. Was wir modelliert haben, war Folgendes: Wir hatten im März die Öffnungen, die in der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wurden. Dort wurde festgelegt, dass man bei einer Inzidenz ab 100 in den Modus vom Februar zurückspringen würde. Das heißt einfach, dass wir die Notbremse nicht mit den konkreten Maßnahmen modelliert haben, sondern so, dass das Ausbreitungsverhalten dann wieder das Ausbreitungsverhalten vom Februar wird.

Die orangefarbene Kurve hat für den Zeitpunkt, als die Bundesnotbremse eingesetzt hat, bereits eine Intensivbelegung von ungefähr 8000 vorhergesagt. Wie kamen Sie auf eine derart hohe Zahl?

Schuppert: Das wäre die Kurve gewesen, die wir erreicht hätten, wenn es keine Osterferien gegeben hätte, und auch sonst keinerlei Maßnahmen ergriffen worden wären. Wir hatten an Ostern bundesweit tatsächlich eine Inzidenz um die 150. Das ist Zufall. Es war nicht berechnet, dass dann genau diese Zahl erreicht werden würde, und durch die Osterferien wurde die Entwicklung tatsächlich abgebremst. Die orangene Kurve wäre eingetreten, wenn man wirklich keinerlei Maßnahmen getroffen hätte, auch nicht lokal.

Aber die Entwicklung ist doch in anderen Ländern mit anderen Maßnahmen relativ ähnlich. Wie erklären Sie sich das?

Schuppert: Allein, wenn man sich die verschiedenen Bundesländer in Deutschland ansieht, sind die Unterschiede groß. Die Koinzidenz ist teilweise frappierend.

Konkret hat sich doch in vielen Bundesländern durch die Notbremse nichts geändert. In manchen, wie beispielsweise Bayern, wurde sogar eher gelockert.

Schuppert: Doch, die Notbremse hatte einen Einfluss. Ende März bis Anfang April sind die Zahlen ziemlich genau nach den Vorhersagen des ungebremsten Modells gestiegen.

Einen wichtigen Effekt hatte wie gesagt die Tatsache, dass die Schulen an Ostern geschlossen hatten. Und Ende März nehmen auch typischerweise viele Menschen Resturlaub. Und das haben wir natürlich auch erst hinterher gesehen, aber die Schulschließungen führten ziemlich genau zu einem Szenario, das dem entspricht, was dann die sogenannte Notbremse bewirkt hätte.

Das heißt, de facto hat sich dann das Ausbreitungsverhalten wieder genau so stabilisiert und nach Ostern gab es dann ja alle möglichen Maßnahmen. NRW hat dann beschlossen, die Schulferien erst später zu beenden, und Hamburg hatte dann eine Ausgangssperre. Also es gab lokal schon Maßnahmen, um die Ausbreitung einzudämmen.

Anfang März haben wir den Anstieg Mitte, Ende März ziemlich genau mit einigen Tagen Verzug richtig vorhergesagt, auch quantitativ bis Ostern. Was wir nicht wussten: Wann würden Maßnahmen installiert, die dann zu einem Abbremsen dieser roten Kurve führen würden? Wann Szenarien dann wirklich beschlossen und umgesetzt werden, kann man nicht vorhersehen. Sonst könnte man ja auch Börsenkurse voraussagen.

In Bayern hat es aber sogar leichte Lockerungen gegeben?

Schuppert: Ja, aber die Landkreise, in denen es Ausbrüche gab, haben trotzdem Maßnahmen ergriffen. Das ist das, worauf es eigentlich ankommt. Sie brauchen nicht unbedingt die bundesweite Notbremse. Sie müssen in den entsprechenden Landkreisen reagieren. Und das ist ja auch passiert.

Kann nicht auch Saisonalität eine Rolle bei den sinkenden Zahlen gespielt haben? In anderen Ländern in Europa fallen die Zahlen sogar noch stärker, obwohl früher gelockert wurde oder Maßnahmen sehr viel weniger streng waren als in Deutschland.

Schuppert: Dass die Zahlen seit Ostern deutschlandweit so präzise der blauen Kurve folgen, ist natürlich in gewisser Weise ein Zufall. Also dass die gesamten Maßnahmen, die man ergriffen hat, tatsächlich so gewirkt haben, nach der Notbremse, die damals beschlossen worden ist. Ob das nun der bundesweiten Notbremse geschuldet ist, oder regionalen Maßnahmen bei Ausbrüchen, ist für das Modell nicht relevant.

Also spielt Saisonalität keine Rolle?

Schuppert: Doch, die ist im Modell auch berücksichtigt, allerdings erst ab Mai. Im April war die Impfung eingebaut und die Kontaktbeschränkungen, mit dem Effekt, dass das Ausbreitungsverhalten, gemessen am R-Wert sich entsprechend dem Verlauf von Februar entwickelt hätte. Durch welche Maßnahmen das letztlich erreicht wurde, ist im Modell nicht explizit simuliert.

Ich kann ehrlich gesagt keinen Unterschied zwischen dem pessimistischen und dem optimistischen Impfszenario erkennen. Gibt es da keinen?

Schuppert: Doch, die Kurven sind unterschiedlich. Nicht im März und nicht im April. Aber ab Juni, Juli sieht man die Differenz dann deutlich, sie beträgt etwa 30 Prozent. Und wenn wir simulieren, was passiert, wenn wir jetzt öffnen für Nicht-Geimpfte, also dass wir wieder in einen Zustand übergehen wie letztes Jahr, dass die Leute in den Urlaub fahren und generell geöffnet wird, wird der Unterschied sehr deutlich.

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