Unehrliche Debatte

19.6.2018, 19:44 Uhr

Wer dieser Tage die Debatten in Deutschland verfolgt, muss unweigerlich den Eindruck gewinnen, das Thema Flüchtlinge sei das mit Abstand wichtigste in unserem Land. Das ist absurd. Gewiss, es ist ein drängendes Problem. Es fehlt an Wohnungen, Schulen und Kindergärten werden belastet. Von den menschlichen Tragödien ganz zu schweigen. Und doch, mit Verlaub, hier sind die Maßstäbe verrutscht.

Der Kardinalfehler war nicht, dass Kanzlerin Merkel in einer dramatischen Notlage Abertausende Flüchtlinge ins Land ließ. Das unverzeihliche Versäumnis war, dass ihrem "Wir schaffen das" keine gemeinsame Anstrengung folgte, um sicherzustellen, wie das gelingen soll. An diesem schwerwiegenden Fehler hängt die ganze hässliche Debatte, die sich seither entwickelt hat – und die das Land spaltet wie selten ein Thema zuvor.

Natürlich kann Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Es gibt Grenzen der Belastbarkeit. Trotzdem sollte man ein paar grundlegende Zahlen zur Kenntnis nehmen. 2017 waren weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht – so viel wie nie zuvor. Die meisten sind aber keineswegs in die reicheren Länder geströmt. Rund 40 Millionen sind im eigenen Land geflohen, weitere Millionen in die Nachbarstaaten. 85 Prozent aller Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern.

Dann brechen Dämme

Gleichwohl, alle Appelle, die Debatte zu versachlichen, verpuffen derzeit, wenn sie nicht sogar neue Beschimpfungen auslösen. Wenn dann ein so entsetzlicher Fall hinzukommt wie der der 15-jährigen Susanna, die von einem irakischen Flüchtling vermutlich erst vergewaltigt und dann getötet wurde, brechen auch bei vielen besonnenen Menschen Dämme.

Der Streit wird so erbittert geführt, dass die CSU aus Angst, wegen des Flüchtlingsthemas ihre absolute Mehrheit im Landtag einzubüßen, selbst die Große Koalition in Berlin aufs Spiel setzt. Auch Folgen für die gesamte EU interessieren die CSU-Führung nicht. Es werden Begriffe wie "Asyltourismus" unters Volk geworfen, die ins "Wörterbuch des Unmenschen" gehören – von Politikern, die Kreuze in Amtsstuben aufhängen lassen.

CSU-Chef und Bundesinnenminister Seehofer treibt diesen Zwist auf die Spitze, um was zu erreichen? Er will Flüchtlinge, die schon in einem anderen EU-Staat registriert sind, gleich an der Grenze abweisen? Wäre das in diesem Jahr konsequent praktiziert worden, wären nicht 7500 Menschen abgewiesen worden, sondern 26 000. Und an diesem Unterschied zerbricht möglicherweise eine Regierung?

"Dublin" endlich kippen

Ansetzen müsste man an anderen Stellen. So muss die Dublin-Regelung gekippt werden, die von Anfang an unehrlich war. Deutschland hat dieses System nach dem Ansturm während der Balkankriege in der EU durchgedrückt. Zumindest theoretisch dürften demnach gar keine Flüchtlinge mehr in Deutschland ankommen. Sie müssten dort versorgt werden, wo sie zuerst registriert werden. Ziel war es jedoch ursprünglich, ein europäisches Modell zu entwickeln, was dann mit den Gestrandeten geschehen soll. Das ist nie passiert – und an diesem Sündenfall könnte nun die EU auseinanderbrechen.

Auch im Land muss sich einiges ändern. Ein paar Beispiele: Es war ein Fehler, zu denken, man könnte das Asylproblem den Juristen überantworten. Das kann nicht gelingen. Es gibt falsche Anreize, wenn Leistungen gezahlt werden, ohne dass Geflohene sich um Integration bemühen müssen – das kritisieren sogar Flüchtlinge. Vor allem aus afrikanischen Staaten gibt es viele Flüchtlinge, die weder eine Aussicht auf Asyl haben noch eine realistische Chance, eine eigene Existenz aufzubauen. Doch die Rückkehrhilfen, die in manchen Fällen sinnvoll wären, sind lächerlich.

Grundlegend falsch ist jedoch, dass wir nach wie vor die Ursachen der Flucht in vielen Regionen nicht bekämpfen. Insbesondere nicht in den afrikanischen Staaten, die wir trotz aller Entwicklungsgelder wirtschaftlich immer noch ausplündern.

Wir sollten ehrlicher miteinander umgehen. In diesen Tagen jedoch scheint das nicht möglich zu sein.

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