US-Wahlsystem erklärt: Warum man auch mit weniger Stimmen Präsident werden kann

1.11.2020, 16:12 Uhr
Hier geht's zur Stimmabgabe: Die US-Bürger können ihren Präsidenten nur indirekt wählen

© Wang Ying via www.imago-images.de, imago images/Xinhua Hier geht's zur Stimmabgabe: Die US-Bürger können ihren Präsidenten nur indirekt wählen

Wie wird der Präsident bestimmt?

Die US-Bürger können ihren Präsidenten nur indirekt wählen: Ihre Stimmen entscheiden über die Zusammensetzung eines Wahlkollegiums („electoral college“), das in der Folge mit Mehrheit den Präsidenten bestimmt. Dieses Kollegium besteht aus 538 Wahlmännern und -frauen, die von den einzelnen Bundesstaaten entsandt werden. Kalifornien verfügt als bevölkerungsreichster Staat über 55 Wahlleute, kleine Staaten wie Delaware nur über drei. In fast allen Staaten gilt dabei das Prinzip der Mehrheitswahl.

Was bedeutet Mehrheitswahl?

Der Präsidentschaftskandidat, der in einem Staat am meisten Wählerstimmen holt, erhält alle Wahlmänner des Staates zugesprochen. Ein Beispiel: Florida hat 29 Wahlmänner und Wahlfrauen. Selbst wenn Joe Biden dort nur hauchdünn mit 50,1 Prozent der Stimmen siegt, stimmen alle 29 Wahlleute später für ihn ab. Man spricht deswegen vom „winner takes it all“-Prinzip – der Sieger bekommt alles. Die Wählerstimmen an den unterlegenen Kandidaten gehen damit faktisch verloren.

Und wie kann es nun passieren, dass ein Kandidat mehr Wählerstimmen holt, aber dennoch nicht Präsident wird?

Auch das liegt in der Mehrheitswahl begründet – und lässt sich ebenfalls anhand eines vereinfachten Beispiels illustrieren: Stellen wir uns vor, die USA bestünden nur aus drei Staaten, die über jeweils 100.000 Wähler verfügen und die jeweils zehn Wahlleute entsenden. Siegt Donald Trump in Staat A mit 52.000 Stimmen (Biden: 48.000), in Staat B mit 54.000 Stimmen (Biden: 46.000) und verliert er in Staat C mit 22.000 Stimmen (Biden 78.000), hat er insgesamt 128.000 Stimmen und 20 von 30 Wahlleuten auf sich vereint – und wird Präsident. Joe Biden hat mit 10 Wahlleuten das Nachsehen, obwohl er mit 172.000 deutlich mehr Wählerstimmen als Donald Trump geholt hatte.

Müsste ein System, das derartig unfaire Ergebnisse produzieren kann, nicht dringend reformiert werden?

Eine Mehrheit der Amerikaner spricht sich für eine Direktwahl des Präsidenten und eine Abschaffung des Wahlmännerkollegiums aus. Von einem „Desaster für die Demokratie“ sprach 2012 sogar Donald Trump. Seit ihm eben dieses System zum Sieg verhalf, hat er seine Meinung geändert. 2019 sprach er von der „Brillanz“ des electoral college.

Wann steht der Wahlsieger fest?

In der Regel erfuhren die Deutschen, selbst wenn sie Frühaufsteher sind, schon morgens, wer das Rennen gemacht hat. Ob das diesmal auch der Fall ist, vermag kaum ein Experte verlässlich zu sagen – Ursache hierfür ist der Boom bei der Briefwahl. Wie die Nachrichtenagentur dpa unter Berufung auf Umfragen berichtet, wollen 2020 mehr Demokraten als Republikaner die Briefwahl nutzen. Daher könnten die ersten Auszählungsergebnisse aus den Wahllokalen Trump in Führung sehen, die spätere Auszählung der Briefwahlunterlagen letztlich aber Biden zum Sieg verhelfen. Auf eine "red mirage" (rote Illusion) könnte also eine "blue shift" (blaue Verschiebung) folgen, wie es die Amerikaner mit Blick auf die beiden Parteifarben formulieren. Eine solche Konstellation dürfte der Frage, ob Trump eine Niederlage akzeptieren würde, zusätzliches Konfliktpotenzial verleihen.

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