"Viele wenden sich schnell wieder von den Protesten ab"

3.1.2017, 16:28 Uhr

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Herr Gabowitsch, vor rund fünf Jahren haben in Russland Hunderttausende Menschen gegen Wahlfälschungen und das korrupte System demonstriert. Gibt es die Bewegung noch?

Mischa Gabowitsch: Es gibt nicht die Protestbewegung in Russland, sondern viele einzelne, die zum Teil auch jetzt sehr aktiv sind. Aktuell wehren sich beispielsweise im ganzen Land Lkw-Fahrer gegen eine neue Maut, und das durchaus erfolgreich. Besonders in diesem Jahr protestierten Bauern gegen Landenteignung. Oft spielen Umweltthemen eine Rolle. Im Gebiet um Woronesch (eine Millionenstadt 500 Kilometer südlich von Moskau, Anm. d. Red.) lehnen sich die Menschen gegen den umweltschädlichen Nickelabbau am Fluss Chopjor auf. Oder in Moskau geht es gegen ein Bauprojekt in einem geschützten Park im Nordosten der Stadt. 

Wie äußern die Menschen ihren Widerstand?

Gabowitsch: Auf alle möglichen Arten. Beliebt sind zum Beispiel Straßenblockaden. Die Laster- und Traktorfahrer, die ich eingangs erwähnt habe, fahren extra langsam oder bleiben einfach stehen. Streiks gibt es häufig, oder Leute schreiben Beschwerdebriefe an die Stadtverwaltung. Aber auch extreme Protestformen wie Selbstverbrennungen gab es schon.

Warum wird solcher ziviler Ungehorsam bei uns im Westen kaum wahrgenommen?

Gabowitsch: Die Protestierenden sind meist wenig vernetzt und finden keinen Zugang zu den Medien, oft auch nicht zu den russischen. Und diejenigen, die professioneller im Umgang mit Medien sind, monopolisieren dann oft die Themen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Gabowitsch: Im Jahr 2012 hat der Aktionskünstler und Politaktivist Pjotr Pawlenskij in Sankt Petersburg mit zugenähtem Mund vor der Kasaner Kathedrale für die Freilassung von Pussy Riot demonstriert. Er hatte eigene Fotografen dabei, die das Ganze sehr dramatisch inszeniert haben. Entsprechend groß war das Echo in der Presse, auch international. Anders war es später bei einem Arbeiter aus Orenburg (Provinzhauptstadt an der Grenze zu Kasachstan, Anm. d. Red.), der bei der Vorbereitung der Olympischen Winterspiele in Sotschi mitgearbeitet hat und um sein Gehalt geprellt wurde. Um dagegen zu protestieren, hat er sich ebenfalls den Mund zugenäht. Das wurde aber überhaupt nicht beachtet, weil der Arbeiter keine Ahnung hatte, wie er an Journalisten herankommen kann.

Wie wirken sich die riesigen Entfernungen in Russland auf das Medienecho von Protestaktionen aus?

Gabowitsch: Sehr stark. Nicht nur, weil fast alle Korrespondenten internationaler Medien in Moskau sitzen. Auch Moskauer Journalisten, die an sich aufgeschlossen für Protestbewegungen sind, sagen oft: In der Provinz ist doch sowieso nichts los. Das stimmt zwar nicht, prägt aber schließlich auch das Selbstbild der dortigen Protestierenden. Wenn ich bei Forschungsreisen abseits der Metropolen Demonstranten interviewen wollte, war die Reaktion oft: Was wollen Sie denn bei uns?

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Ich habe mich kürzlich in Moskau mit Menschen getroffen, die bei den Massenprotesten der Jahre 2011 bis 2013 sehr aktiv waren. Sie haben sinngemäß gesagt, dass sich der Protest inzwischen von der Straße ins Internet, also in soziale Netzwerke wie Facebook oder sein russisches Pendant VKontakte, verlagert hat. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?

Gabowitsch: Jein. Für einen Teil damaligen Protestierenden trifft das sicher zu. Nachdem die Massenproteste abgeflaut waren und das Parlament das Versammlungsrecht so verschärft hatte, dass größere Demos fast unmöglich wurden, gab es für Aktivisten mehrere Möglichkeiten: Die einen hatten sich durch die Proteste gegen Wahlfälschung stark politisiert und sehen sich jetzt als politische Oppositionelle. Andere gehen eher auf konkrete, oft lokale Themen. Sie versuchen zum Beispiel, die erwähnten Lkw-Fahrer oder Umweltaktivisten zu unterstützen. Das Internet hilft bei der Koordination, seine Rolle darf aber nicht überbewertet werden.

Manche Beobachter stellen fest, dass sich viele Bürger vor allem gegen lokale Missstände wie Umweltzerstörung engagieren, während sich prominente Oppositionspolitiker eher an abstrakten Idealen wie Rechtsstaatlichkeit orientieren. Und so kommen beide Seiten nicht recht zusammen.

Gabowitsch: Ja, das ist ein Grundproblem. Bei Kundgebungen habe ich im Gespräch mit Demonstranten oft festgestellt, dass sie überhaupt nicht einverstanden mit dem sind, was die Redner auf dem Podium sagen. So kommt es oft zu Konflikten innerhalb von Protestbewegungen, weil ihre Teilnehmer völlig unterschiedliche Ziele haben. Im Kern ist es ein Konflikt zwischen oppositionellem Protest und Sozialprotest. Die eine Seite sagt: Wir brauchen Meinungsfreiheit und einen Rechtsstaat, dann löst sich alles andere von alleine. Die andere Seite sagt: Setzt euch endlich für unsere konkreten Anliegen ein! Und so wenden sich viele schnell wieder von Protestbewegungen ab, weil sie das Gefühl haben: Es bringt ja doch nichts.

Finden Sie, dass die Proteste der Jahre 2011 bis 2013 trotz dieser inneren Konflikte und dem verschärften Versammlungsrecht etwas bewirkt haben?

Gabowitsch: Wenn ich diese Frage Leuten stelle, die damals aktiv waren, antworten diese oft, dass es ihnen gar nicht so sehr um konkrete Ziele ging, sondern einfach um das Beisammensein mit Gleichgesinnten. Für sie war der Protest selbst das Ereignis. Viele haben so erst bemerkt, dass sie mit ihrer Unzufriedenheit nicht alleine dastehen. Und manche sagen im Nachhinein: Das war eine Erfahrung, die mich selbst transformiert hat.

Hinweis: In einer ursprünglichen Fassung enthielt das Interview einige Fehler, da die Redaktion versehentlich eine nicht von Mischa Gabowitsch autorisierte Fassung veröffentlicht hatte. Inzwischen haben wir die redaktionellen Fehler korrigiert. So war in der ursprünglichen Fassung beispielsweise von einer Gruppe von Arbeitern aus Orenburg die Rede, die dagegen protestierten, dass ihre Gehälter nicht ausgezahlt wurden. Tatsächlich war es aber nur ein Arbeiter.

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