Warum "Impfneid" durchaus verständlich ist

27.4.2021, 05:50 Uhr
Wird Geimpften mehr erlaubt als Nicht-Geimpften? Die Debatte läuft.

© imago images/Political-Moments, NN Wird Geimpften mehr erlaubt als Nicht-Geimpften? Die Debatte läuft.

Bei diesem Thema gehen die Emotionen sehr schnell hoch: Sollen Geimpfte Rechte zurückbekommen? Also etwa leichter reisen können? Oder Gaststätten besuchen? Wer so etwas fordert, erhält rasch sehr viel Kritik.

Frage der Solidarität

Wo bleibe denn da die Solidarität, klagen Leserinnen und Leser. Nun hätten vor allem die Jüngeren lange zugunsten der Älteren Verzicht geleistet – und müssen jetzt ansehen, wie diese Älteren, eben weil sie geimpft sind, Dinge dürfen, die nicht Geimpfte noch nicht dürfen...

Hat Verständnis für den Unmut vieler Bürger: Peter Dabrock.

Hat Verständnis für den Unmut vieler Bürger: Peter Dabrock. © e-arc-tmp-20200503_151737-5.jpg, ARC

Ein Aufreger-Thema. Und ein Grund, bei Peter Dabrock nachzufragen. Der in Fürth lebende und in Erlangen lehrende Theologie-Professor war von 2016 bis April 2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates – also die richtige Anlaufstelle, wenn es um Fragen von moralischem Verhalten geht.

Wer darf was?

Ist "Impfneid" verständlich? Ist es nachvollziehbar, wenn Menschen verlangen, dass auch bereits Geimpfte erst einmal warten sollen mit Kneipen-Besuchen – frei nach dem Motto: Wenn ich etwas nicht darf, dann soll es ein anderer auch nicht dürfen?

Peter Dabrock kann das schon nachvollziehen. Er glaubt, dass die meisten durchaus denen etwas gönnen, die bereits geimpft sind – "auch den Betrieben oder Gastronomen, dass die endlich wieder in die Pötte kommen können". Zugleich aber hätten viele das Gefühl: "Ich kann doch nichts dafür, dass ich posteriorisiert bin, also laut Priorisierung noch nicht dran bin." Da überwiege bei vielen eine "Verbitterung, die von der Politik nicht wahrgenommen wird", befürchtet Dabrock.

Rein verfassungsrechtlich ist die Sache sehr eindeutig: Der Staat kann die verbrieften Grundrechte nicht auf Dauer vorenthalten. Er tut dies momentan wegen der Pandemie, muss das aber stets überprüfen – und Freiheitsrechte dann zurückgeben, wenn das ohne drohende Gesundheitsgefährdung möglich ist.

"Das treibt die Menschen um"

Da geht es auch nicht um "Privilegien" für Geimpfte, Genesene oder Getestete, sondern eben um die Rückkehr und Rückgabe von Rechten. "Momentan erleben aber viele eine Ungleichbehandlung – und das treibt die Menschen moralisch um", beobachtet Dabrock.

Jeder höre Geschichten, wer bereits geimpft wurde, obwohl doch eigentlich andere früher drankommen müssten... "Das empört Menschen, das treibt ihnen die Zornesröte ins Gesicht". Gegen dieses "zu erwartende Ungerechtigkeitsgefühl" habe die Politik aber nichts getan, beklagt der Ethik-Experte.

Verärgerte Eltern

Ähnlich sieht das ein Praktiker: Der Zirndofer Kinderarzt Michael Hubmann leitet aktuell das Impfzentrum in Fürth. "Warum bin ich noch nicht dabei", fragten sich viele. Eltern seien verärgert bis empört, weil ein Jahr lang die Schule quasi ausgefallen sei und nun immer noch nichts vorangehe.

Drängt darauf, nun Jugendliche ab 16 vorrangig zu impfen: Michael Hubmann, Leiter des Impfzentrums Fürth.

Drängt darauf, nun Jugendliche ab 16 vorrangig zu impfen: Michael Hubmann, Leiter des Impfzentrums Fürth. © Hans-Joachim Winckler, NN

Da liegt Hubmann auf einer Linie mit Dabrock. Beide fordern unabhängig voneinander keine völlige Aufgabe der Priorisierung beim Impfen, aber eine ganz andere Rangfolge: Nun müssten Schülerinnen und Schüler ab 16 und deren Lehrer vorrangig geimpft werden. "Wenn ich jetzt die Pandemie brechen will, muss ich diese Altersgruppe zwischen 16 und 28 impfen", so Mediziner Hubmann.

Ohne Reihenfolge? Da protestiert Dabrock

Im November habe die Priorisierung ganz klar auf das Sterblichkeits-Risiko abgezielt, nachvollziehbarerweise damals, sagt Hubmann. Nun müsse man aber umdenken.
Eine von der Politik debattierte völlige Abkehr von einer Rangliste, wer wann an der Reihe ist mit der Impfung, hält Dabrock für verantwortungslos. "So etwas kann man nicht nach dem Windhundprinzip laufen lassen, es geht ja um eine Frage von Leben und Tod."

Dass Politiker ernsthaft den Stopp der Priorisierung fordern, das kritisiert er massiv: "Die Politik versucht da, sich so schnell wie möglich aus der Verantwortung zu ziehen. Sie zieht sehr gern die Daumenschrauben an, scheitert aber dann beim Gestalten von Rahmen." Dabrock spricht sehr drastisch von einem "Drama", ja von einem "Desaster" das die Politik da biete, weil sie ihre Steuerungsmöglichkeiten nicht nutze.

Er hält zudem eine neue Debatte über das Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für erforderlich – nicht nur wegen Corona. Auch das Sterbehilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ziele sehr einseitig auf eine ich-bezogene Freiheit. Der Theologe erblickt da eine riskante "Nobilitierung", also Aufwertung der individuellen Freiheit.

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