Was hat die Deutsche Einheit jungen Menschen heute noch zu sagen?

1.10.2020, 09:20 Uhr
Was hat die Deutsche Einheit jungen Menschen heute noch zu sagen?

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Was hat die Deutsche Einheit jungen Menschen heute noch zu sagen?

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"Papa, hast du damals wirklich geschmuggelt?" Jedes Jahr am 3. Oktober erinnern sich meine Eltern an die Zeit, als Deutschland noch geteilt war und erzählen, wie die Besuche unserer "Ostverwandtschaft" in der DDR abgelaufen sind.

Nächtliche Grenzübertritte, bei denen sie alles für die Verwandten mitnahmen, was nur ging. Es fing an mit den Fürther Nachrichten unter dem Fahrersitz, steigerte sich mit Bananen und Orangen, versteckt im Hohlraum der Autotür, und ging bis zum Autoradio und dem Glasdach für den himmelblauen Trabbi des Cousins. Erwischt wurden sie nie, aber die Gänsehaut bleibt, sobald sie sich auf der A9 bei Hof dem ehemaligen Grenzübergang nähern.

Mein Vater und sein Cousin lernten sich als "Ausländer" kennen, aber es hat sich nie so angefühlt. Als ich vor neun Jahren mein Studium in Ostberlin begann, sollte es genau umgekehrt sein. Dort fand ich Freunde, von denen viele aus den sogenannten neuen Bundesländern stammen. Obwohl wir uns im wiedervereinigten Deutschland kennenlernten, trugen wir noch Vorbehalte gegenüber "denen von da drüben" in uns.


Einheit? Nur in Vielfalt


Meine Freunde und ich haben diese vermeintlichen Unterschiede jedoch schnell überwunden. Dank meines brandenburgischen WG-Mitbewohners spreche ich nun fließend Berliner Schnauze. Zusammen mit meiner sächsischen Kommilitonin erkundete ich unsere gemeinsame Hauptstadt. Und von meinem Arbeitskollegen aus Sachsen-Anhalt lernte ich, was echte Solidarität bedeutet, als er mir mitten in der Nacht Zuflucht gewährte, seine Klamotten und das Essen mit mir teilte.

Dort, wo bei manchen heute noch die Mauer in Form von Vorurteilen im Kopf zementiert ist, existierte diese für meine Familie schon damals nur aus Stahlbeton und Maschendraht. Meine "Ostdeutschen" Freunde und ich kannten die innerdeutsche Grenze bereits nicht mehr, haben die Vorurteile überwunden und pflegen unsere Freundschaft noch heute. Zum Glück nur über unsichtbare Landesgrenzen hinweg, über die ich das fränkische Bier nicht mehr schmuggeln muss.

Die Luke im Grenzzaun

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Meine Großeltern, Karin und Wolfgang Duda, wohnen im Harz. Das Mittelgebirge liegt am Rand von Niedersachsen und ist unter anderem für seine hohe, zugegebenermaßen unbestätigte, Dichte von Hexen bekannt. Jedes Jahr zur Walpurgisnacht, so die Sage, sollen sie auf den höchsten Berg dort ziehen: den Brocken. Doch der bietet eigentlich viel mehr als Bibi Blocksberg Fantasien. Am Fuß entlang lief nämlich die Grenze zwischen Ost und West. Zur Zeit des Kalten Krieges wurde der Brocken zum "Berg der Spionage". Von ihm horchten zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Fall der Mauer die ostdeutsche Stasi und der russische Geheimdienst den verfeindeten Westen aus. Ab dem August 1961 war der Zugang deshalb nur noch mit besonderen Papieren gestattet.

Bei einigen Wanderungen, die meine Großeltern und ich viele Jahre später zum Gipfel dieses Berges unternahmen, erzählte mein Großvater immer wieder von seinen Erlebnissen an der Grenze: Schon vor der Öffnung war er einige Male im Gebiet um den Brocken herum unterwegs gewesen. Einige Tage nach dem Fall der Mauer, entdeckte er im Grenzzaun ein Tor mit kleiner Luke. Im Gegensatz zum restlichen Zaun war dort über dem Tor kein Stacheldraht. Er schaute sich um und riskierte eine Tour mit seinen Skiern. Das war nicht ganz ungefährlich: Selbst nach dem offiziellen Mauerfall bestand die militärische Absperrung um den Gipfel des Brockens weiter. Bis zum 3. Dezember 1989. An diesem Tag demonstrierten tausende Menschen vor dem Tor der Bergkuppe für die Öffnung.

Doch selbst nach der friedlichen Demonstration und der Öffnung des Gipfels für Besucher, war der nicht vom Westen aus zugänglich. Als mein Großvater mit seinen Arbeitskollegen im Februar nach der Grenzöffnung einen Ausflug auf den Brocken machte, mussten sie also wieder durch die Luke. Das Schloss, das an dem Tor befestigt war, schnitt mein Großvater zwei Tage davor mit einem Bolzenschneider durch.

Zu diesem Zeitpunkt waren immer noch sowjetische Soldaten am Gipfel stationiert. Auch viele Jahre später kann mein Großvater eindrucksvoll beschreiben, in welchem Zustand die Männer waren. Die Winter im Harz, besonders auf dem Brocken, sind hart und kalt. Die Soldaten hatten dafür viel zu dünne Kleidung an. Sie hausten in notdürftigen Baracken. Einige Zeit davor war ihre eigentliche Unterkunft abgebrannt. Die Soldaten versuchten alles Mögliche zu verkaufen – sogar ihre Waffen.


Blick in die Geschichte: Die deutsche Einheit


Für besonderes Herzklopfen sorgt das Ende der Geschichte, die mein Opa häufig bei den Wanderungen erzählt. Als die Gruppe auf ihrem Rückweg wieder durch die Luke steigen wollte, hatte jemand in der Zwischenzeit das Tor verschlossen. Die Männer hatten kein Werkzeug dabei, und so mussten sie über das drei Meter hohe Tor klettern. Doch sie hatten Glück. Unbemerkt konnten sie sich auf den Weg nach Hause machen.

Unsere Wanderungen führen mittlerweile nicht mehr durch Zäune oder Luken. Wer heute auf den Brocken will, der kann einfach hochlaufen. Oder die kleine Brockenbahn nutzen. Oder, in der Walpurgisnacht, einfach den Besen.

Wir sind privilegiert

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© Michael Matejka

Als mein damaliger Geschichtslehrer uns Schülern vom Mauerfall erzählte, fiel mir auf, dass sich dieser historische Tag mit einem runden Geburtstag meines Vaters deckte. Ich stellte mir vor, wie meine Eltern und einige Gäste 1989 umhüllt von Rauchschwaden und mit Schälchen voller Nudelsalat auf den Knien gebannt vor dem Fernseher saßen, die Botschaft über die Tagesschau erfuhren und sich lachend und weinend in die Arme fielen. Vielleicht streckte mein Vater sogar die Faust in die Höhe und schrie "Das ist das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten!" Ich wollte meine Theorie beim Abendessen abklopfen und meine Eltern, die für mich ja Zeitzeugen waren, dazu befragen. Meine jugendliche Naivität wurde erschüttert, denn so lief das Ganze gar nicht ab. Ohne Verwandte oder Freunde "im Osten" waren meine Eltern in diese Thematik nämlich nicht wirklich involviert. "Wir haben das eher aus der Ferne beobachtet," fasste mein Vater es zusammen.

Der Mauerfall hätte sich schon länger angebahnt und so fiel von den Geburtstagsgästen scheinbar niemand aus den Wolken, als es dann soweit war. Für die Leute hätte es sie natürlich sehr gefreut, doch letztendlich blieb das Ganze etwas, das weit weg passierte.

Das passte so gar nicht zu den Bildern tanzender Menschen auf der Mauer, die mir noch am Vormittag via Overhead-Projektor gezeigt wurden. Da begriff ich: Meine Eltern und viele, viele andere Menschen waren schlichtweg privilegiert. Privilegiert, im Westen zu leben und die Geschehnisse "aus der Ferne" beobachten zu dürfen. Genauso wie ich jetzt privilegiert bin, in einem vereinten Deutschland zu leben, ohne Probleme mit dem Bus nach Berlin fahren zu können, um dort ein Selfie vor dem Kuss von Breschnew und Honecker machen zu dürfen. Dazu habe ich rein gar nichts beigetragen, ich hatte schlichtweg Glück. Andere hatten dieses Glück nicht. Eine Tatsache, die man sich in gegenwärtigen Zeiten mehr denn je ins Gedächtnis rufen sollte.

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