Wikipedia: Erlanger Autorinnen-Gruppe behaupten sich in Männer-Domäne

27.9.2020, 05:47 Uhr
Wer ein Smartphone besitzt, trägt das ganze Wissen dieser Welt in seiner Tasche mit sich herum. Allein das deutschsprachige Wikipedia besteht aus 2,5 Millionen Artikeln.

© Foto: Rafael Henrique, imago images Wer ein Smartphone besitzt, trägt das ganze Wissen dieser Welt in seiner Tasche mit sich herum. Allein das deutschsprachige Wikipedia besteht aus 2,5 Millionen Artikeln.

Über ihre Laptops gebeugt, sitzen fünf Frauen an einzelnen Tischen im prächtigen Bürgersaal der Erlanger Stadtbibliothek. In Corona-Zeiten hält man Abstand. Nach einigen Online-Sessions sind die monatlichen Treffen nun wieder möglich. Mentorin Sophie geht umher, schaut den Schreiberinnen im Alter von 31 bis 71 Jahren über die Schulter, gibt Tipps und beantwortet viele Fragen.

Hier entstehen Wikipedia-Einträge. Jede Autorin arbeitet an ihrem eigenen Projekt. Dabei geht es nicht immer nur um Frauen. So beschäftigt sich Daniela S. mit einem historischen Gebäude, das ihr in ihrer Jugend viel bedeutet hat und fügt an diesem Abend noch einige Informationen und ein Foto zu dem schon fertigen Artikel hinzu.

90 Prozent aus der Hand von Männern

Ulla K. widmet sich auf Wikipedia Forscherinnen aus dem Bereich der Technik. Sie selbst ist Informatikerin und auch in Fachgesellschaften aktiv: "Ich bin in Sachen Frauen und Technik seit Jahren unterwegs, also quasi dauerbeschäftigt und habe eine lange, lange Liste", sagt sie.

Fast 2,5 Millionen Artikel sind seit März 2001 auf Wikipedia in deutscher Sprache entstanden. Etwa 90 Prozent davon wurden von Männern verfasst – die zum großen Teil über Männer schreiben. Inzwischen haben sich weltweit Autorinnen organisiert, um der freien Enzyklopädie mehr weibliche Perspektive zu geben. In Deutschland gibt es "WomenEdit"-Gruppen in Berlin, seit 2019 auch eine in Erlangen.

Technik-affine Frauen vernachlässigt

Wikipedia: Erlanger Autorinnen-Gruppe behaupten sich in Männer-Domäne

© Foto: iStock.com / Mykyta Dolmatov

Nicht nur in der männlich geprägten Arbeitswelt, auch in der Wikipedia-Welt seien berühmte technik-affine Frauen lange vernachlässigt worden, so Ulla K.. In der umfangreichsten, stets wachsenden Enzyklopädie der Welt kann sie ihr Wissen teilen.

Eine von Männern auf Wikipedia nicht für relevant erachtete Wissenschaftlerin – die einst frisch geehrte kanadische Physik-Nobelpreisträgerin Donna Strickland – war es auch, die Frauen auf den Plan rief. Fortan sollte das Ungleichgewicht behoben werden, sprich: Mehr Wikipedianerinnen waren gefragt. Klar, dass die Physikerin Strickland inzwischen ihren eigenen Eintrag in verschiedenen Sprachen bekommen hat.

Iva Berlin ist Deutschlands Wikipedia-Frontfrau

Laut der Wikimedia Foundation waren 2016 nur 17 Prozent der englischsprachigen biografischen Einträge Frauen gewidmet. "Gender Bias" heißt dieses Phänomen, geschlechterbezogener Verzerrungseffekt. Diese Kluft war auch Thema eines Workshops beim Nürnberg Digital Festival 2019 mit der deutschen Wikipedia Frontfrau Iva Berlin. Im Zuge dessen bildete sich die Erlanger WomenEdit-Gruppe heraus, die nunmehr seit einem guten Jahr besteht.

Mitinitiiert wurde sie von Katharina Leyrer (31), Bibliothekarin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich digitale Geistes- und Sozialwissenschaften an der FAU. "Die Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft hat unmittelbare Auswirkungen auf die Inhalte von Wikipedia", sagt sie. "Frauen sind auch hier unterrepräsentiert oder werden als Mütter dargestellt, die dem berühmten Mann Kinder geboren haben."

Leyrer selbst hat auf Wikipedia Artikel über Gender-Themen geschrieben. Eine Seite über die (ungerechte) Geschlechterverteilung wurde inzwischen aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Derartige Übertragungen aus einer von 300 Sprachen auf Wikipedia sind mehr als bloße Übersetzungen. Sie werden mit aktuellen Studien und neuen Erkenntnissen, also eigenen Recherchen angereichert. Es gilt: Kein Artikel ohne Einzelnachweise und Weblinks. Die Inhalte müssen stets Hand und Fuß haben.


Nach Hacker-Angriff: Wikipedia bekommt Millionen-Spende


Hierzulande prüfen so genannte Sichterinnen und Sichter die Beiträge, bevor schließlich Moderatoren wie Sophie den Beitrag freigeben. Seit zehn Jahren engagiert sich die Mitt-Dreißigerin für Wikipedia. Mehr als 24.000 Beiträge hat sie verfasst, etwa die täglich aktuelle Startseite bestückt, oder sich mit SchauspielerInnen und Serien befasst. Zudem ist sie Mitglied des Wikipedia-Schiedsgerichtes und konnte unlängst ihr silbernes Wikiläum feiern. Was treibt die Autorin und Moderatorin an? "Ich bin von Natur aus neugierig und idealistisch", sagt Sophie, die wie alle Wiki-Mitwirkenden für Gotteslohn arbeitet. Denn die Enzyklopädie wird ausschließlich von Freiwilligen gespeist.

Autorinnen bleiben lieber anonym

Sophie will ebenso wie viele ihrer Mitautorinnen anonym bleiben und rät dazu, auf Klarnamen zu verzichten. Ähnlich wie in den sozialen Netzwerken sei auch bei Wikipedia Hetze und oft unqualifizierte Kritik an der Tagesordnung. Berechtigte Kritik könne in Form von Berichtigungen oder Ergänzungen stets nach vorherigem Faktencheck geübt werden.

Und so müssen auch die Erlanger Autorinnen ihre Einträge gründlich überprüfen. Sarah Dlugokinski-Thoma, Bibliothekarin der Erlanger Stadtbücherei, ist gemeinsam mit einer Kollegin jeden zweiten Montag im Monat Gastgeberin der Wiki-Gruppe. "Wir liefern die Infrastruktur, also die Räumlichkeiten, bei Bedarf PCs, Tablets oder auch Bücher." Die Teilnehmerinnen der Erlanger WomenEdit-Gruppe verfolgen ein gemeinsames Ziel: Sie wollen Frauen in Wikipedia sichtbarer machen.

Verwandte Themen


4 Kommentare