"Erstaunlich und besorgniserregend"

Aktuelle Daten: Geschlechtskrankheiten breiten sich aus - Behandlung wird schwieriger

Saskia Muhs

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23.4.2024, 16:11 Uhr
Einige Geschlechtskrankheiten breiten sich derzeit stark in Europa aus.

© Christophe Gateau/Christophe Gateau/dpa/dpa-tmn Einige Geschlechtskrankheiten breiten sich derzeit stark in Europa aus.

Im März 2024 hat das "European Centre for Disease Prevention and Control" (ECDC) die neuesten Daten zu sexuell übertragbare Krankheiten innerhalb Europas veröffentlicht. Die neueste Erhebung bezieht sich auf das Jahr 2022, in welchem insgesamt 27 europäische Länder analysiert wurden. Zu den untersuchten Krankheiten gehören sowohl virale als auch bakterielle Infektionskrankheiten, wie Chlamydien, Syphilis und Gonorrhoe.

Chlamydien

Laut den ECDP-Forschern erreichte die Verbreitung von Chlamydien-Infektionen 2019 ihren Höhepunkt, bevor die Zahlen wegen der Corona-Beschränkungen in den Jahren 2020 und 2021 drastisch sanken. Mit dem Ende der Pandemie stiegen auch die belegten Fälle von Chlamydien-Infektionen wieder drastisch an und erreichten 2022 einen neuen Höhepunkt.

216 508 bestätigte Infektionen mit Chlamydien wurden 2022 in Europa vom "European Centre for Disease Prevention and Control" (ECDC) dokumentiert. Auf 100.000 Menschen kommen 88 Infektionen – eine Steigerung von 16 Prozent gegeben über dem Vorjahr. Den größten Anstieg gab es dabei bei jungen Frauen zwischen 20 und 24 Jahren sowie bei Männern, die Geschlechtsverkehr mit Männern haben.

Für Deutschland, Österreich und Tschechien liegen allerdings keine Daten des ECDP vor. Norbert Brockmeyer, Professor an der Ruhr-Universität Bochum, und Gründer des ersten interdisziplinären Zentrums für sexuelle Gesundheit sagt 2023 in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung": "Bei den bakteriellen Infektionen sind in Deutschland Chlamydien am häufigsten, davon gibt es pro Jahr etwa 300.000 Diagnosen".

Gonorrhoe alias Tripper

70 881 Fälle der Gonorrhö, auch Tripper genannt, wurden 2022 in 28 europäischen Staaten von der ECDC gezählt. Auch in dieser Erhebung fehlen konkrete Daten aus Deutschland und Österreich. Die Inzidenz stieg damit um 48 Prozent im Vergleich zu 2021, um 17,9 Fälle auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Gemessen an 2018 sind es 59 Prozent mehr. Den größten Anstieg gab es bei Frauen im Alter zwischen 20 und 24 Jahren – ihre Rate wuchs um 63 Prozent innerhalb eines Jahres.

Syphilis

Im Jahr 2022 wurden in 29 EU-Staaten 35.391 bestätigte Fälle von Syphilis verzeichnet. Auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner ergibt das einen Anstieg von 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und 41 Prozent gegenüber 2018. Aufgrund des Anstiegs der Syphilis ist auch ein Anstieg der kongenitalen Syphilis, also der Übertragung des Erregers von der Mutter auf das ungeborene Kind zu verzeichnen. Laut ECDC markiert 2022 zudem das erste Jahr seit zehn Jahren, in welchem auch eine steigende Inzidenz bei heterosexuellen, sexuell aktiven Menschen zu verzeichnen ist. Mehr als 70 Prozent der Fälle gehen auf Männer zurück, welche Sex mit Männern haben.

Nach Angaben eines aktuellen epidemiologischen Bulletins des Robert-Koch-Instituts ist die Zahl der Infizierten im Vergleich zu 2019 um 72 Prozent gestiegen. Im Jahr 2022 lag die Inzidenz in ganz Deutschland bei 10,0 Fällen pro 100.000 Einwohner. Im Vorjahr noch bei 8,1. Das RKI berichtet, dass 2022 insgesamt 8.305 Syphilis-Fälle gemeldet wurden. In Nürnberg lag die Inzidenz bei 29,2 je 100.000 Einwohner.

"Erstaunlich und besorgniserregend"

Zusammenfassend lässt sich festhalten: die Inzidenz bei den gängigsten sexuell übertragbaren Krankheiten steigen europaweit. "Diese Zunahme ist erstaunlich und sie ist besorgniserregend", sagte die ECDC-Direktorin Andrea Ammon bei einer Pressekonferenz in Stockholm. "Diese Zahlen, so hoch wie sie sind, stellen sehr wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges dar", fügte sie unter Verweis auf nationale Unterschiede bei den Testverfahren und beim Zugang zu medizinischer Versorgung hinzu. Das ECDC betonte, dass Chlamydien ebenso wie Gonorrhoe und Syphilis behandelbar seien. Würden diese Infektionen hingegen nicht behandelt, könnten sie zu ernsthaften gesundheitlichen Komplikationen führen. Da viele Erkrankungen jedoch symptomfrei verlaufen, ist die Dunkelziffer mutmaßlich noch deutlich höher, als die aktuellen Zahlen belegen.

Mögliche Gründe für die Zunahme

Ein Grund für die Zunahme der Fälle könnte im veränderten Sexualverhalten der Menschen liegen. So mutmaßt die EU-Gesundheitsbehörde ECDC, dass nach der Pandemie mit der Anzahl der sozialen Kontakte auch die Anzahl sexueller Partner deutlich zugenommen hat. Gleichzeitig nehme die Verwendung von Kondomen ab.

Gefragt nach der Art der Verhütung beim letzten Geschlechtsverkehr geben etwa zwei Drittel der Frauen und mehr als die Hälfte der Männer die Pille an; ein Kondom verwenden etwa 44 Prozent der Frauen und rund zwei Drittel der Männer, so eine Erhebung des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2022.

Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erfreut sich das Kondom als Verhütungsmittel in Deutschland damit zunehmender Beliebtheit und löste 2023 die Antibabypille als meistgenutztes Verhütungsmittel ab.

Kondome schützen nur bedingt

Doch man solle das Kondom als Faktor nicht überschätzen, sagt Benjamin Hampel, leitender Arzt am Checkpoint Zürich, dem größten Schweizer Zentrum für sexuell übertragbare Krankheiten, in einem Interview mit der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ).

"Denn Gonorrhoe, Syphilis und Chlamydien sind bakterielle Erkrankungen, die sich über Schmierinfektionen ausbreiten. Oralverkehr, gemeinsam benutztes Sexspielzeug und jeglicher Schleimhautkontakt kann zu einer Ansteckung führen. Bei Gonorrhoe und Syphilis kann sogar Knutschen ausreichen, um die Bakterien zu übertragen. Ein Kondom schützt da nur bedingt."

Auch HIV-Zahlen steigen

In Bayern wurden 2023 nach Zahlen des Robert Koch-Instituts über 600 HIV-Infektionen diagnostiziert, der höchste Wert bundesweit und um knappe 20 Prozent höher als im Vorjahr (gut 500). Bundesweit gab es demnach 2023 knapp 3300 HIV-Diagnosen. Die "Augsburger Allgemeine" hatte zuerst darüber berichtet. Eine Ansteckung mit HIV lässt sich durch ein Kondom hingegen verhindern.

Antibiotikaresistenzen breiten sich aus

Infektionen mit Gonorrhoe, Syphilis und Chlamydien normalerweise unkompliziert mit Antibiotika behandelt werden - wenn sie entdeckt werden. Allerdings vermeldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon im Jahr 2016 die Entdeckung eines Stamms von Gonorrhoe-Bakterien in Großbritannien, der gegen die übliche Therapie mit dem Antibiotikum Ceftriaxon resistent ist. Laut einem Bericht aus China aus breitet sich die antibiotikaresistente Gonorrhoe seit 2017 immer weiter aus. Ihr Wert mache demnach inzwischen einen Anteil von 8,1 Prozent aller Tripper-Erkrankungen aus.

Ausbreitung durch gezielte Tests stoppen

Hampels empfiehlt in der "NZZ" gezieltes und kostenfreies Testen von Risikogruppen. "Wenn wir allen sagen, sie sollen testen, erreichen wir nicht die, die das höchste Risiko haben, sondern die, die am meisten Angst haben und eh vorsichtig sind", sagt er. Die Gruppen mit dem höchsten Risiko sind nach den Datenerhebungen der ECDC homosexuelle Männer sowie junge Menschen mit häufig wechselnden Sexualkontakten.

Regelmäßige Tests auch bei sexuell aktiven Personen außerhalb der Risikogruppen schaden dennoch natürlich nicht. Das geht entweder über den Hausarzt oder in Nürnberg beispielsweise bei der Fachstelle für Sexuelle Gesundheit.

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