Erkrankt im mittleren Alter

"Mama spricht keinen Satz zu Ende": Wie eine 56-Jährige mit der Diagnose Demenz lebt

25.4.2023, 11:00 Uhr
Im Film "Still Alice – mein Leben ohne gestern" spielt Schauspielerin Julianne Moore eine Frau, die mit Anfang 50 an Alzheimer erkrankt.

© imago images/Everett Collection/Sony Pictures Im Film "Still Alice – mein Leben ohne gestern" spielt Schauspielerin Julianne Moore eine Frau, die mit Anfang 50 an Alzheimer erkrankt.

Demenz kann viele Gesichter haben. Zum Beispiel das von Simone, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht haben möchte. Mit 53 Jahren bekam sie die Diagnose: Verdacht auf Alzheimer Demenz. "Ich hatte schon länger gemerkt, dass etwas nicht stimmt", erzählt sie.

Erst waren es Gedächtnis- und Orientierungsprobleme, später kamen Sprachschwierigkeiten dazu. "Mama spricht keinen Satz mehr zu Ende", sagte ihr Sohn damals. Trotzdem war die Diagnose ein Schock für die heute 56-Jährige. Und bis dahin war es ein langer Weg. Als Selbstständige lautete der Befund zunächst: Burnout-Syndrom. Sie solle eine Auszeit nehmen, riet ihr Arzt. Erst als sie zum Neurologen ging, bekam sie Gewissheit.

Diagnose Demenz ist wie ein schwarzes Loch

"Mein Sohn hat eine Stunde lang in der Garage geweint", erinnert sie sich. Simone, seit 33 Jahren verheiratet, gab damals ihren Beruf auf. Sie konnte einfach nicht mehr, sagt sie. Das kann die Sprecherin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG), Susanna Saxl-Reisen, gut verstehen. Viele wollten raus aus dem Job, weil der zusätzlichen Druck bedeute. "Die Diagnose Demenz ist wie ein schwarzes Loch, in das man fällt", sagt Saxl-Reisen. So ging es auch Simone.

In den ersten Jahren habe sie die Talsohle durchschritten, erzählt sie. Inzwischen wohnt sie im ländlichen Brandenburg. Erst seit dem vorigen Sommer geht es ihr wieder besser. Simone hat angefangen, Klavierspielen zu lernen. Und Simone liebt Tiere. Sie hat sich eine Katze zugelegt, pflegt Alpakas und geht mit Hunden aus dem Tierheim spazieren. "Betroffene sagen uns immer wieder, wie wichtig es ist, aktiv zu sein", sagt Saxl-Reisen.

Das sei genau der richtige Weg, betont auch die wissenschaftliche Leiterin der Alzheimer Forschung Initiative, Linda Thienpont. Von sogenanntem Gehirnjogging und Kreuzworträtseln rät sie indes ab, dort werde meist nur "altes Wissen" abgefragt. Eine Fremdsprache oder ein Musikinstrument zu lernen, schaffe hingegen "neues Wissen". Auch neue Menschen kennenzulernen könne helfen, den Verlauf der Krankheit zu verzögern. "Soziale Kontakte sind sehr wichtig."

"Ich möchte gefordert werden"

Simone hat sich nicht aufgegeben. "Das Nichtstun bekommt mir nicht gut", sagt die gebürtige Leipzigerin. Im vergangenen Jahr hat ihre Freundin geheiratet – Simone plante die Hochzeit. "Ich möchte gefordert und nicht in Watte gepackt werden." Simone engagiert sich auch bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG). "Betroffenen hört man anders zu", erläutert sie. Nach Angaben der DAlzG leben in Deutschland etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Und die Zahl nehme infolge demografischer Veränderungen zu.

Mehr als 100.000 Betroffene sind demnach zwischen 40 und 64 Jahre alt. Auch wenn Demenz in allen Altersgruppen auftreten könne – generell sei es eine Alterskrankheit, sagt Mathias Jucker. In jungen Jahren sei fast immer eine Genveränderung die Ursache für eine Demenz, so der Neurowissenschaftler, der am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen forscht. Zwar beginne die Erkrankung meist schon im mittleren Lebensalter, aber es dauere zwei Jahrzehnte, bis man erste Symptome spüre.

"Wir können heute schon 20 Jahre vorher Warnzeichen dafür finden, dass jemand wahrscheinlich an Demenz erkranken wird", sagt Jucker. Allerdings seien frühe Diagnosen nicht zu 100 Prozent zuverlässig. Hinzu komme die aussichtslose Lage: "Wer will im Alter von 50 Jahren wissen, dass er mit 70 an Demenz erkrankt, wenn es noch kein Heilmittel gibt?"

Gedächtnis- und Orientierungsproblemen

Simone hätte es gerne früher gewusst, sagt sie. Lange Zeit war ihr nicht klar, was in ihrem Kopf vorging. Einmal fand sie sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause wieder – konnte sich aber nicht mehr an die Strecke erinnern. Heute fällt es ihr zunehmend schwer, Struktur in ihren Tag zu bringen. Ein Medikament hilft ihr, sich besser zu konzentrieren. Und sie schläft viel. "Ich bin aber noch nicht so schwer erkrankt", sagt sie.

Mit einer beginnenden Demenz könne man noch gut leben, erklärt Saxl-Reisen. Symptome einer Demenz beginnen nach Angaben der DAlzG schleichend. Erste Warnzeichen zeigten sich meist in Gedächtnis- und Orientierungsproblemen. Menschen mit beginnender Demenz hätten etwa Schwierigkeiten mit gewohnten Aufgaben oder könnten Gesprächen in einer Gruppe nicht mehr richtig folgen. Auch auffällige Veränderungen von Stimmungslage oder Verhalten könnten am Beginn einer Demenz stehen, heißt es weiter. Im späteren Verlauf verschwänden dann auch Erinnerungen des Langzeitgedächtnisses. Die Betroffenen verlören mehr und mehr die während ihres Lebens erworbenen Fähigkeiten.

Risikofaktoren für eine Demenz seien etwa Bluthochdruck, Übergewicht und Diabetes, schrieb eine internationale Forschungsgruppe 2020 im Fachblatt "The Lancet". Ein mögliches Risiko könnte auch Schlafmangel sein, sagt Thienpont. "Schlaf ist wie ein Reinigungsprozess für das Gehirn", erklärt sie. Wenig Schlaf könnte ihre Erkrankung begünstigt haben, sagt Simone, die lange Zeit vier Stunden oder weniger schlief. Doch auch ihre Großmutter litt an Alzheimer-Demenz.

Wer denkt mit 50 Jahren schon an Alzheimer?

Maren Ewald leitet das StattHaus, ein Betreuungs- und Beratungszentrum für Demenzkranke im hessischen Offenbach. "Menschen mit Demenz trauern am Anfang um sich selbst. Sie merken, wie sie sich selbst verlieren", sagt sie. Zum StattHaus gehört eine WG für ältere Demenzkranke sowie eine öffentliche Cafeteria mit Garten. Zur Tagesbetreuung kommen zwei bis drei sogenannte Jungbetroffene unter 65 Jahren. Auch Ewalds Vater war früh betroffen. Mit 57 Jahren bekam er die Diagnose. "Wer denkt mit 50 Jahren schon an Demenz?", sagt sie. Die Krankheit habe die ganze Familie belastet.

"Meine Mutter war völlig überfordert, wollte ihn aber nicht ins Heim bringen." Demenz ist unheilbar. Der Stand der Forschung sei je nach Variante unter schiedlich, sagt Jucker. "Über Alzheimer wissen wir viel mehr als über andere Demenzerkrankungen." Alzheimer ist die häufigste Demenzform. Im Lauf der Zeit sterben dabei immer mehr Gehirnzellen ab. Häufig sei außerdem die vaskuläre Demenz, die Lewy-Körperchen-Demenz und die Frontotemporale Demenz. Um auch über diese Demenzformen mehr herauszufinden, brauche es "mehr Geld, mehr Forschung und einen langen Atem", so Jucker. "Wir wollen dann eingreifen, wenn Betroffene noch nichts von ihrer Demenzerkrankung spüren. Nicht erst dann, wenn es zu spät ist."

Für Alzheimer seien in Deutschland vier Medikamente zugelassen, die den Verlauf der Krankheit etwas hinauszögern könnten, sagt Thienpont. Anfang des Jahres wurde in den USA der Antikörper Lecanemab vorläufig zugelassen. Das Medikament ist aber nicht unumstritten, weil es zu Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen und Blutungen im Gehirn gekommen war. Zudem berichtete das Magazin "Science" im vergangenen Dezember, dass es in Zusammenhang mit der Therapie möglicherweise drei Todesfälle gegeben habe.

Charakteristisch für Alzheimer sind Ablagerungen von Eiweißen im Gehirn, Jahre bevor erste Symptome auftreten. Der Antikörper Lecanemab soll im Gehirn der Patienten das Eiweiß Beta-Amyloid einfangen, das sich in solchen Plaques ablagert, und so den Verlauf der Krankheit etwas bremsen. Thienpont hofft, dass der Nutzen der Arznei die Risiken übersteigt. Auch in Europa wurde eine Zulassung für den Antikörper beantragt. "Ich denke, bis Ende des Jahres wird es eine Entscheidung geben", sagt die Wissenschaftlerin. Aufgrund der möglichen Nebenwirkungen wie etwa Hirnschwellungen seien regelmäßige MRT-Untersuchungen wichtig.

Simone hält nicht viel von dem neuen Medikament – auch wegen der Berichte über Todesfälle. Auch ohne Lecanemab gehe es ihr gut, sagt sie. Früher hat sie gerne und viel gelacht. "Erst wollte ich das meiner Familie vorspielen, aber mittlerweile kann ich es wieder." Mit einer Lebenserwartung von durchschnittlich sieben bis acht Jahren nach der Diagnose will sie sich nicht abfinden. Thienpont betont, die Spanne der Lebenserwartung sei groß – von zwei bis 20 Jahren. "Ich lasse mich nicht runterziehen", sagt Simone. "Ich möchte mein Leben noch so lange genießen, wie es geht."

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