Rau, unbarmherzig und atemberaubend

Acht Tage im schönsten Nationalpark Chiles: So wild ist der O-Trek im Torres del Paine in Patagonien

Isabella Fischer

Leben

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20.5.2023, 06:00 Uhr
Eis, so weit das Auge reicht. Der Ausblick auf den immensen Grey Gletscher entschädigt für so manche Strapazen. 

© Luca Dacomo Eis, so weit das Auge reicht. Der Ausblick auf den immensen Grey Gletscher entschädigt für so manche Strapazen. 

Viermal Express-Pasta und Tüten-Nudelsuppe, drei Mal Reis mit Gewürzen, Marmelade, Brot, unzählige Nussmischungen und Kekse. Es ist kein kulinarisches Feuerwerk, das in den nächsten Tagen gezündet wird. Der Geschmack steht allerdings auch nicht an erster Stelle, möglichst viele Kalorien und leichtes Gewicht haben jetzt oberste Priorität.

Ist die Regenhose eingepackt? Handschuhe, Mütze, Stirnband, Taschenmesser, Gaskocher? Was brauche ich, was ist unnötig und nimmt zu viel Platz und Gewicht ein? Vom Boden im Hostelzimmer in der chilenischen Hafenstadt Puerto Natales ist nicht mehr viel zu sehen. Ich muss packen. Für mein Abenteuer O-Trek. Acht Tage Zelten im Nationalpark Torres del Paine.

Zugegebenermaßen bin ich bislang nicht durch eine große Affinität zum Campen aufgefallen, hier am Ende der Welt möchte ich aber Neues entdecken, Herausforderungen angehen und meistern. Vor Monaten schon habe ich mein Zelt auf den Campingplätzen im Park reserviert. Es hat mich Stunden gekostet, werden sie doch alle von drei verschiedenen Betreibern verwaltet.

Eine Völkerwanderung im Nationalpark

Der Park im chilenischen Teil Patagoniens ist Ziel von Völkerwanderungen und gehört bei einer Südamerika-Reise dazu wie die Eiffelturmbesteigung in Paris. Der O-Trek umrundet in über einer Woche das Paine-Massiv und ist im Gegensatz zum W-Trek, der in drei bis fünf Tagen gelaufen werden kann, viel weniger frequentiert.
Der Bus, der mich von Puerto Natales ins 80 Kilometer Luftlinie entfernt gelegene Ziel bringt, startet früh um 7 Uhr. Noch im Bett höre ich, wie der Regen gegen das Dach prasselt. Aber es hilft ja nichts: Iso-Matte und Schlafsack werden an den Rucksack gehängt, das Regencape drüber gestülpt und los geht es ins Ungewisse.
Das Wetter in Patagonien kann auch im Sommer rau und unbarmherzig sein.

Die plötzlichen Wetterumschwünge bekomme ich in den folgenden Tagen gehörig zu spüren. Gleich am ersten Tag regnet es so lang und stark, dass selbst die letzte Faser der eigentlich wasserdichten Goretex-Regenjacke kapituliert. Meine Wanderschuhe sind bald meine private Lagune, sie werden in den kommenden Tagen nur schwer wieder trocken zu kriegen sein. Glücklicherweise habe ich mir für den Notfall einen halben Liter Wein eingepackt. Den ersten kräftigen Schluck gibt es direkt nach Ankunft am Campingplatz um 13 Uhr.

Die Länge der Tagesetappen ist überschaubar, von neun bis 25 Kilometern mit maximal 1000 Metern Höhenunterschied ist alles dabei. Für sportlich aktive Menschen sind die Distanzen kein Problem, nur der schwere Rucksack ist in den ersten Tagen eine Herausforderung. Auf den Campingplätzen wird entweder im eigens mitgebrachten Zelt übernachten oder Sie mieten ein bereits aufgestelltes Zelt - wie ich. Wer es komfortabler haben möchte, kann sich in einem der Refugios einmieten, die Mehrbettzimmer sind allerdings mit um die 100 Euro pro Nacht sehr teuer.

Geteilter Wein ist halbes Leid

Etwa 50 Menschen machen sich mit mir auf die Reise entlang des O-Treks. Sie kommen aus der ganzen Welt aus Kanada, Australien oder Europa nach Patagonien. In den Küchenräumen der Campingplätze kommt man auch als Alleinreisende schnell in Kontakt mit den Mit-Wanderern. So kommt es, dass am ersten Abend der Wein direkt mit einem gleichaltrigen Mann aus Den Haag in den Niederlanden geteilt wird.

Die Landschaft im Torres del Paine ist unglaublich vielfältig. Reißende Flüsse, idyllisch gelegene und ruhige Seen, bizarre Felsformationen, endlose Täler, schneebedeckten Gipfel und gewaltige Gletscher prägen den Nationalpark. Um zum größten Gletscher des Nationalparks, dem Grey Gletscher zu gelangen, muss der John Gardner Pass bezwungen werden. Die Betonung liegt auf bezwungen. Hat man Pech, wird der Pass von den Parkrangern aufgrund der schlechten Wetterlage gesperrt und man muss am Campingplatz warten, bis es grünes Licht zur Überquerung gibt.

Wir können loslaufen, dennoch meint es das Wetter an Tag Vier nicht gut mit uns. Strömender Regen, Windböen von über 120 km/h, Hagel, der einen schmerzhaft ins Gesicht schlägt und plötzlicher Schneefall stehen auf der Wetterkarte. Meine Handschuhe habe ich am ersten Campingplatz vergessen. Ich erinnere mich an Reinhold Messners Zehenamputation nach Erfrierungen und hoffe inständig, dass es zum Erfrieren meiner Hände noch kälter sein muss.

Der Anblick macht es jedoch schwer, das Wetter weiter zu verfluchen. Der Grey Gletscher erstreckt sich sechs Kilometer weit vor unseren Augen. Bis zum nächsten Campingplatz bleibt er immer im Sichtfeld. Nach schnellen sieben Stunden erreichen wir das Tagesziel. Einige unserer Mit-Wanderer kommen erst nach 13 Stunden triefend nass und verfroren, aber mit einem großen Lächeln im Gesicht an. Als Belohnung gibt es im Camp Pizza und Bier. Eine Lektion, die wir an diesem Tag lernen: Wenn du denkst, du bist für patagonisches Wetter gerüstet, bist du es nicht.

Viele Touristen und jede Menge Regenbogen

Mittlerweile teilen wir uns die Wege mit den Wanderern des W-Treks. Es wird in beiden Richtungen voller, die Unterkünfte größer, moderner und komfortabler. Die Beliebtheit des Treks und der zunehmende Tourismus machen sich hier deutlich bemerkbar. Ein Zustand, an dem man sich nach der ersten Hälfte in Abgeschiedenheit erst einmal gewöhnen muss.

Es gibt natürlich auch viele magische Momente entlang des O-Treks. Die unzähligen Regenbogen, die man Tag für Tag über den Seen bestaunen kann, plötzlicher Sonnenschein und unerwartete Zeitfenster, in denen man doch den fünf Kilometer langen Abstecher ins Francés-Tal gehen kann und am Mirador Britanico ob der Wucht und Schönheit der Gipfel und Gletscher mit offenen Mund dasteht. Und natürlich die endlosen Gespräche mit Menschen aus aller Welt, die sich in den acht Tagen von Fremden in Freunde verwandeln.

Die Cuernos Türme, das Highlight und Wahrzeichen des Nationalparks, erreichen wir am achten Tag. Unser Vorhaben, die Türme am Nachmittag von Tag sieben bereits zu sehen, wird bei eisigen Temperaturen im Schneesturm davongeweht. Ob der Weg am nächsten Tag von den Parkrangern wieder geöffnet wird, kann nur der patagonische Wettergott beantworten. Wir hoffen auf ein wenig Glück und vertreiben uns den Nachmittag mit Reste-Essen. Alles wird geteilt, Kartoffelpüree aus der Tüte mit Keksen und Instant-Kaffee.

Über die Absperrung in den Sonnenschein

Nach einer letzten, nicht ganz so verfrorenen Nacht im Zelt ist der Trail auch am Morgen des finalen Tages noch gesperrt. Wir wollen unser Glück dennoch versuchen und beginnen den fünf Kilometer langen Aufstieg. Sollen die Ranger uns doch wieder heim schicken, wir hätten es zumindest versucht, denken wir uns.
Je näher wir unserem Ziel kommen, desto blauer wird der Himmel - auch das ist eben typisch Patagonien. Strahlender Sonnenschein und Neuschnee begrüßen uns schließlich an den weltberühmten Türmen. Was für ein Anblick. Die Augen werden ganz feucht, dieses Mal nicht vom Regen, sondern vor Freude und Erleichterung. Der Weg war wie immer das Ziel, dennoch war der Blick ein grandioser und verdienter Abschluss einer unvergesslichen Wanderung am Ende der Welt.


Anreise
Der Flug nach Santiago de Chile gilt mit rund 18 Stunden als einer der längsten überhaupt.
Puerto Natales ist von dort am einfachsten per Flugzeug in 3 1/2 Stunden zu erreichen.

Allgemeine Informationen

Gibt es auf der Homepage des Nationalparks und bei Conaf

Campingplätze/Unterkünfte

Fantástico Sur: www.fantasticosur.com

Vertice Travel: www.vertice.travel

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