Nur Deutschland ignoriert die EU-Rückreiseregel
Familie klagt gegen Quarantäne für ungeimpfte Kinder nach Skiurlaub in Österreich, Schweiz, Südtirol
15.02.2022, 10:07 Uhr
Es war ein ständiges Hin und Her: Vor den letzten Weihnachtsferien wechselten manche Familien, die mit Schulkindern in den Skiurlaub wollten, mehrfach kurzfristig das Reiseziel, weil erst Österreich Hochrisikoland war, Südtirol aber nicht - dann kam Österreich mitten in den Ferien von der Liste der Risikogebiete und Südtirol darauf. Wer trotzdem mit un- oder unvollständig geimpften Kindern in ein Hochrisikogebiet fuhr, musste sie danach in Quarantäne schicken. Es drohten strafrechtliche Folgen.
Für viele Eltern, die dringend Erholung und Tapetenwechsel brauchen und sich aufs Skifahren freuen, grenzt das inzwischen an Schikane. Denn diese Vorschrift gibt es innerhalb der EU nur (noch) in Deutschland, das Bundesgesundheitsministerium zeigt sich weiterhin sperrig.
Kippt ein Gericht bald den deutschen Sonderweg?
Doch vielleicht kippt bald ein deutsches Gericht den deutschen Sonderweg. Ein Leser hat uns kontaktiert und uns über seine Musterklage gegen die in Deutschland geltende Regel unterrichtet: Demnach können sich schulpflichtige Kinder (über 6 Jahren) frühestens nach fünf Tagen freitesten, für jüngere Kinder endet die Quarantäne automatisch.
Doch Eltern, die sehenden Auges mit ihren Kindern in ein Hochrisikogebiet fahren, verletzen die Schulpflicht und machen sich strafbar. Viele stornierten deshalb komplett den Urlaub. Die EU-Empfehlung macht nun vielen Hoffnung, dass sich das für die Faschingsferien vielleicht noch ändern könnte. Der Kläger setzt ebenfalls darauf.
Keine Rückreise-Quarantäne für Kinder unter 12?
Denn die EU schlägt vor, Kinder unter 12 Jahren, die aus einem europäischen Hochrisikoland zurückkommen, gar nicht mehr in Quarantäne zu schicken. Das wäre ein Paradigmenwechsel und würde auch in den kommenden Faschingsferien ab 26. Februar bis 6. März für viele Familien Skiurlaub in Österreich, der Schweiz und Südtirol möglich machen.
Bislang dürfen nur durchgeimpfte Kinder ohne Folgen wieder nach Deutschland zurückreisen. Allerdings muss man für alle Reisenden vor Grenzübertritt die digitale Einreisemeldung der Bundesrepublik ausfüllen und den Impf- oder Genesenen-Nachweis hochladen - wer keinen hat, muss in Quarantäne.
Leser-Antrag zur Befreiung von Absonderungspflicht abgelehnt
Unser Leser, mit dem wir auch telefoniert haben, schreibt uns: "Vorliegend wurde durch mich an das Landratsamt Ortenaukreis (Gesundheitsamt) für meine Kinder (beide unter 7 Jahre alt, d.Red.) ein Antrag nach § 6 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 der Corona EinreiseVO gestellt. Es wurde beantragt die Kinder nach dem Urlaub in der Schweiz von der Absonderung zu befreien. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Ich habe sodann nach § 123 VwGO Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim VG Freiburg gestellt (Az. 2 K 289/22)." Er erwartet eine Entscheidung in den nächsten ein bis zwei Wochen, also noch vor den Faschingsferien. Das Urteil könnte ein Musterurteil werden mit Folgen auch für bereits ausgesprochene Strafen für Eltern.
Weiter beruft sich der Leser auf die Empfehlung der EU: "Ich bin der Meinung, dass ich einen Anspruch auf einen positiven Bescheid habe. Gestützt wird der Antrag unter anderem auf die von Ihnen genannte Empfehlung der EU. Eine solche Empfehlung ist zwar für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich (Art. 288 Abs. 5 AEUV), die innerstaatlichen Gerichte sind aber verpflichtet, bei der Auslegung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, die verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen, Empfehlungen des Europäischen Rates heranzuziehen (vgl. EuGH, Urt. v. 13.12.1989 - Rs C - 322/88 - BeckRS 9998, 80943; BayVGH, Beschluss vom 24.11.2020 - 20 NE 20.2605 - juris Rn. 33)."
Politiker nennt die Regel "sinnlose Extrawurst"
Laut bild.de spricht Daniel Caspary (45, CDU/ EVP), Chef der deutschen CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament und in Opposition zur Bundesregierung, von einer „sinnlosen Extrawurst“, die „bezeichnend ist für die hilflose Corona-Politik von Karl Lauterbach. Endlich haben die EU-Staaten vereinbart, dass alle wieder frei reisen dürfen. Nur Deutschland und Herr Lauterbach machen es den Familien mit Kindern unnötig schwer: Es ist unerträglich, dass selbst Familien, die sich an alle Stiko-Empfehlungen halten, noch immer mit europaweit einmaligen Quarantäneregeln herumärgern müssen.“
EU empfiehlt weitere Reiseerleichterungen
Konkret nimmt der Rat der EU in seinem seit 1. Februar gültigen Personenbasierten Ansatz "unter anderem auch ungeimpfte Reisende unter 12 Jahren von Beschränkungen der Freizügigkeit" aus und stellt weitere Lockerungen in Aussicht.
Darin heißt es: „Reisende, die im Besitz eines gültigen digitalen COVID-Zertifikats der EU sind, sollten keinen zusätzlichen Beschränkungen der Freizügigkeit unterliegen. (...) Personen, die nicht im Besitz eines digitalen COVID-Zertifikats der EU sind, könnten verpflichtet werden, sich vor oder bis spätestens 24 Stunden nach ihrer Ankunft einem Test zu unterziehen. Reisende, die eine wichtige Funktion ausüben oder deren Reise zwingend notwendig ist, Grenzgänger und Kinder unter 12 Jahren sollten von dieser Anforderung ausgenommen werden.“ Die EU-Kommission gibt auch Antworten auf wichtige Fragen zur Empfehlung des Rates, so wichtig ist ihr ein freizügigerer Reiseverkehr.
Rechtsprofessor zeigt sich skeptisch
In Deutschland ist die Empfehlung der EU bislang weder berücksichtigt noch gültig. Bleibt Deutschland bei seiner Linie? Darf es einen Sonderweg gehen oder ist die Empfehlung bindend, weil EU-Recht nationales Recht bricht, wie viele hoffen? Der Erlanger Professor Robert Freitag vom Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht hat auf unsere Frage geantwortet:
"Empfehlungen zählen zwar zu den offiziellen Rechtsakten des Unionsrechts, sie sind gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) jedoch explizit nicht verbindlich. Die Bindungswirkung von Empfehlungen ist damit eine rein politische – und damit selbstverständlich größer, wenn ein Mitgliedstaat im Rat für die Annahme der Empfehlung gestimmt statt sich enthalten oder gar gegen die Empfehlung gestimmt hat." Deutschland muss das also nicht umsetzen, wenn es das nicht will. Außer vielleicht, das Urteil fällt entsprechend aus.
Deutschland hält an bisheriger Linie fest
Wir haben auch das Bundesgesundheitsministerium (BGM) um ausführliche Antwort zur Haltung der Bundesregierung gebeten. Darin heißt es etwas trocken: "Empfehlungen sind Rechtsakte der Europäischen Union und als solche Teil des Sekundärrechts. Empfehlungen und Stellungnahmen dienen überwiegend der Beurteilung einer gegenwärtigen Lage und legen dem Adressaten ein bestimmtes Verhalten nahe, ohne jedoch rechtlich bindend zu sein. Der von Ihnen angesprochene Geltungsvorrang des Unionsrechts ist daher vorliegend nicht betroffen, da die von Ihnen angesprochene Ratsempfehlung für Deutschland nicht rechtsbindend ist. Insoweit richtet sich die Absonderungspflichten nach nationalem Recht." Und das bleibt wohl bestehen.
Die Pressestelle des BGM erläutert weiter sehr ausführlich - hier eine Zusammenfassung: "Auf nationaler Ebene gilt nach der aktuellen Fassung der Coronavirus-Einreiseverordnung Folgendes: Personen, die in als Hochrisiko- oder Virusvariantengebiet eingestuften Regionen waren, müssen nach wie vor nach Ankunft in Quarantäne. Dies gilt auch für 5 bis 11-jährige Kinder. Für Kinder, die das sechste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, endet die Absonderung fünf Tage nach der Einreise automatisch (§ 4 Abs. 2 S. 3 2. HS CoronaEinreiseV)."
Herausgehoben wird noch: „In Anbetracht der Tatsache, dass für Kinder ab 5 Jahren nun die Möglichkeit zur Schutzimpfung gegen COVID-19 besteht und eine Testung für diesen Personenkreis unproblematisch möglich ist, wird die Altersgrenze für die Nachweispflicht und die Absonderungspflicht auf 6 Jahre – wie im Rahmen des § 28b Absatz 5 IfSG – abgesenkt.“ Auf die konkrete Frage, ob Deutschland wenigstens erwägt, sich an der EU-Empfehlung zu orientieren, wurde nicht eingegangen.
Ausführliche Begründung der bisherigen Linie
An der bisherigen Regel wird also vorerst festgehalten: Ihr "liegt Folgendes zugrunde: Um zu verhindern, dass Ansteckungen in den letzten Tagen im Risikogebiet unerkannt bleiben, schließt sich bei nicht geimpften oder nicht genesenen Personen, die sich in einem Hochrisikogebiet aufgehalten haben und die zur Nachweisführungen des Nichtvorliegens einer Infektion einen Testnachweis besitzen, eine Absonderung an. Denn ein Testnachweis stellt nur eine Momentaufnahme dar und Personen können asymptomatisch infiziert sein."

Und weiter: "Es gibt jedoch Ausnahmen von der 5-Tages-Frist für das Freitesten nach Aufenthalt im Hochrisikogebiet. (...) Eine Ausnahme gilt unter anderem für Personen, die aufgrund des Besuchs von Verwandten ersten (zum Beispiel Eltern oder Kinder) oder zweiten Grades (zum Bespiel Geschwister, Enkelkinder oder Großeltern), des nicht dem gleichen Hausstand angehörigen Ehegatten oder Lebensgefährten oder eines geteilten Sorgerechts oder eines Umgangsrechts einreisen (§ 6 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 a) aa) CoronaEinreiseV). Dies umfasst auch den Fall der Wiedereinreise nach Deutschland nachdem ein solcher Besuch enger Verwandter im Ausland erfolgt ist.
Diese Ausnahme ist auch nicht auf einen 72-Stunden-Zeitraum begrenzt. In diesen Fällen kann die Testung also schon vorher, auch bereits vor Einreise, durchgeführt werden. Die Quarantäne endet, sobald der Testnachweis über das digitale Einreiseportal https://einreiseanmeldung.de an die zuständige Behörde übermittelt wird: Erfolgt die Übermittlung vor Einreise (wird dringend empfohlen), muss die Quarantäne nicht angetreten werden.
Eine Ausnahme von der Einreisequarantänepflicht bei Voraufenthalt in einem Hochrisikogebiet besteht also im Falle von Familienbesuchen, wenn:
1. sie aufgrund des Besuchs von oben genannten engen Verwandten einreisen und
2. ein (negativer) Testnachweis an die zuständige Behörde über das Einreiseportal übermittelt wird.
Die Hinweise auf diese Ausnahmeregelung sind auch unter den FAQ zu der CoronaEinreiseV eingestellt https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/infos-reisende/faq-tests-einreisende.html."
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