11. September 1969: Günter Grass hoffnungsvoll wie nie

11.9.2019, 07:00 Uhr
11. September 1969: Günter Grass hoffnungsvoll wie nie

© Ulrich

Geschmückt mit einer weißblauen Rautenkrawatte („Eine Liebeserklärung an Bayern“), und mit bewundernswerter Geschicklichkeit in der do-it-yourself-Methode Zigaretten drehend, präsentierte sich der Polit-Literat auf dem Nürnberger Flughafen, bevor er nach Bayreuth weiterfuhr, wo er in „einer der Höhlen des NPD-Löwen“ für Brandt und Schiller werben will.

Für seinen linksgewebten Wahl-Optimismus weiß der im Umgang mit Wählern erfahrene Erfinder und Chef der „Sozialdemokratischen Wählerinitiative“, gewichtige Gründe zu nennen:

1. Der Wähler ist heute nicht mehr so traditionsgebunden wie ehedem, er entscheidet pragmatischer und weniger ideologisch, kurzum er ist mobiler geworden und zum „Wechsel der Lieblingspartei bereit“. Das Hauptverdienst an. dieser „neuen Bewegung“ schiebt Grass neidlos dem studentischen Protest zu.

2. Der Bürger ist an Informationen und Argumenten, weniger an Parolen und Schlagworten interessiert. Grass: „Die emotionale Werbung der CDU/CSU ist von gestern.“ Außerdem: „Kiesinger hat seine eigene Schönheit überschätzt.“

3. Auch auf die große Unbekannte gerade dieser Wahl, die vielumworbene Frau, die Ende dieses Monats wieder den Ausschlag geben wird, setzt der Best-Seller-Produzent, der das Wahlkampfmetier fast wie ein Partei-Profi beherrscht.

Besonders die berufstätigen Frauen sind politisch aufgeschlossen, hat er auf seiner Tour von Flensburg bis Garmisch festgestellt. Und die „ganz alten Damen“ nimmt Grass energisch „in Schutz“. Sie zeigten „erstaunlich viel Kenntnisse“.

Während alle Bundespolitiker die Gretchenfrage nach der kommenden Koalition wie der Leibhaftige das Weihwasser scheuen, steuert Günter Grass ohne Umschweife aufs Traum-Ziel los. Er favorisiert die Koalition SPD-FDP, weiß aber, daß er, der parteilose Propagandist, bei den sozialdemokratischen Oberen, wie Herbert Wehner und Helmut Schmidt, nicht unbedingt auf reine Gegenliebe stößt. Aber bei Schmidt, so glaubt jedenfalls Grass, „ist bereits ein Wandel eingetreten“.

Anders als etwa 1961, da der Schriftsteller mit dem Hahn-Symbol („Mein Markenzeichen“) der „guten alten Tante SPD“ Beine machen wollte, sieht er heute eine „durch Regierungsbeteiligung selbstbewußter gewordene Sozialdemokratie“ hinter sich. Freilich, einen Erdrutsch hält auch er für rundweg ausgeschlossen, denn "so etwas gibt es hierzulande nicht“.

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