20-Jährige tot: Prozess um Unfall nach Alkohol-Fahrt neu aufgerollt

7.9.2020, 05:50 Uhr
Mit der Aufkleber-Aktion "Gegen Alkohol am Steuer" appelliert Ronald Stahl an die Allgemeinheit, unter diesem Titel betreibt er auch eine Internetseite.

© Ulrike Löw Mit der Aufkleber-Aktion "Gegen Alkohol am Steuer" appelliert Ronald Stahl an die Allgemeinheit, unter diesem Titel betreibt er auch eine Internetseite.

Am 22. April 2017 wollten Theresa und ihr Freund feiern: Es war ein Samstag Abend, am Sonntag hatte er Geburtstag. Theresa Stahl, 20 Jahre, stieg in ihren Mini – von Untereisenheim fuhr das Paar in eine Disco nach Würzburg, knapp 20 Kilometer entfernt.

Heute bleibt nur noch die Erinnerung. "Sie war so stolz auf ihr Auto", schildert Ronald Stahl, Theresas Vater. Er erzählt, dass sie bei BMW im Büro lernte, den gebrauchten Mini zu guten Konditionen bekommen hatte. Ehrensache sei es für sie gewesen, nur nüchtern zu fahren.

Ronald Stahl ist Handwerker, sein Wohnhaus, in dem auch der Heizungsbaubetrieb untergebracht ist, liegt auf einer Anhöhe in Güntersleben im Landkreis Würzburg, man kann hier weit in das Fränkische Weinland sehen – doch während wir auf einer Bank vor dem Haus über seine Tochter und die Umstände ihres Todes sprechen, blickt er auf eine Landkarte.

Aus dem Leben gerissen

Mit seinem Zeigefinger deutet er auf die Stelle, an der ein VW-Golf-Fahrer in jener Nacht gegen 3.40 Uhr Theresa aus dem Leben riss. Sechs Tage lag sie im Koma. Am 28. April schalteten die Ärzte die Geräte ab, die Eltern standen an Theresas Bett. "Sie sah friedlich aus", sagt Stahl und kann bis heute kaum fassen, wie schnell ein warmer Körper kalt werden kann.

"Immer nach vorne schauen": Theresa Stahl trug ihr Lebensmotto als kleines Tattoo auf ihrer linken Ferse. Heute ist der Pfeil zum Symbol der Initiative geworden. 

"Immer nach vorne schauen": Theresa Stahl trug ihr Lebensmotto als kleines Tattoo auf ihrer linken Ferse. Heute ist der Pfeil zum Symbol der Initiative geworden.  © privat, NN

3177 Menschen starben 2017 in Deutschland bei Verkehrsunfällen. Das Statistische Bundesamt erfasst Unfallursachen wie Alkoholeinfluss und überhöhtes Tempo. Doch zu jenen 3177 Frauen und Männern zählen freilich nur jene, die ihr Leben auf der Straße verloren haben. Über das Leid der Hinterbliebenen kann keine Statistik Auskunft geben.

Nach dem Unfall suchten einige Mitglieder der Familie Stahl psychologische Hilfe, doch Ronald Stahl muss seinen Betrieb am Laufen halten. Um schlafen zu können, schluckte er Tabletten. Etwa 700 Menschen kamen damals zur Beerdigung, erzählt er, und sagt, dass es ihn tröstet, dass Theresa so beliebt war. "Wir trauern", sagt er, "aber wir dürfen die Kleine nicht vergessen."

Neuauflage des Strafverfahrens

"Die Kleine" ist die jüngere Schwester, die nun, da das Landgericht Würzburg den Unfalltod von Theresa Stahl juristisch aufarbeitet, auch als Nebenklägerin auftritt. Ab Mittwoch folgt die Neuauflage eines Strafverfahrens, das im Oktober 2019 viele Menschen fassungslos zurückließ.


Große Verkehrskontrolle offenbarte Alkohol und Drogen am Steuer


Damals wurde Niclas H. in erster Instanz im Amtsgericht verurteilt. H. hatte 2,89 Promille Alkohol im Blut, als er Theresa Stahl erfasste. "Fahrlässiger Vollrausch" brachte ihm eine Geldstrafe von 5000 Euro ein und ein Jahr Fahrverbot. Ein mildes Urteil gegen einen Sturzbesoffenen, mit fataler Signalwirkung: "Du musst nur genug trinken, dann kannst du dir alles erlauben" kommentiert Stahl. "Damals habe ich den Glauben an den Rechtsstaat fast verloren."

Kein härteres Urteil möglich?

Amtsrichter Bernd Krieger betonte in der Urteilsbegründung damals, das Urteil ergehe im Namen des Volkes und fügte an: "Aber das Volk muss ein paar Semester Jura studieren, um das zu verstehen, was ich geurteilt habe."


Empörung im Netz nach mildem Urteil gegen Würzburger Todesfahrer


Wenn der Staat will, dass Gesetze befolgt werden, müssen Rechtsnormen klar formuliert werden, Normenklarheit nennt sich dieser Grundsatz des Rechtsstaates. Sollte es nicht auch ein grundsätzliches Ziel sein, dass Urteile verstanden werden? Später erklärten der Richter und die beiden Schöffen der Familie persönlich, dass kein härteres Urteil möglich war.

Doch Jura ist nicht Algebra mit nur einem möglichen Ergebnis – und Urteile im Instanzenzug überprüfen zu lassen, ist ebenfalls ein wichtiger Grundsatz in unserem Rechtsstaat.

Berufung eingelegt

Die Familie Stahl hat Berufung eingelegt, wie auch die Staatsanwaltschaft Würzburg. Die Anklägerin hatte in erster Instanz zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe für fahrlässige Tötung beantragt. Und nun sieht es so aus, als sei in zweiter Instanz eben doch ein anderes Urteil denkbar.

Rückblick: An jenem Abend besuchte Niclas H., damals 18 Jahre, das Weinfest in Untereisenheim, eine Wiese entlang des Mains diente als Parkplatz. Dort, knapp 500 Meter vom Dorf entfernt, parkte der VW Golf.

Um 1 Uhr nachts versuchte H.s Vater erfolglos, Niclas mit nach Hause zu nehmen. Später sahen Zeugen, wie H. über den Parkplatz driftete, sich in die Kurve legte, drehte und mit den Reifen Kreise ins Erdreich zeichnete, "Donuts", wie es im Motorsport heißt.

Kilometerlange Spritztour

Die Polizei hatte an der Landstraße nach Untereisenheim zur Kontrolle eine Verkehrssperre errichtet. Als das Weinfest längst beendet war, packten die Beamten zusammen.

Erst jetzt machte sich Niclas H. auf den Heimweg und fuhr drei Kumpels nach Untereisenheim, dabei beträgt der Fußweg auf direktem Weg gerade 500 Meter. Doch die Gruppe setzte sich in den Golf. Es folgte eine kilometerlange Spritztour, ein Umweg entlang einer kurvigen Landstraße, um nach Hause zu gelangen. Niclas H., dies wurde im Prozess öffentlich, trinkt seit seinem 11. Lebensjahr, er ist an Alkohol gewöhnt.

Theresa Stahl dagegen hatte ihren Mini in Würzburg stehen lassen. Jemand hatte ihr in der Disco ein Getränk spendiert, das sie für Cola hielt. Dass auch Alkohol im Glas war, bemerkte sie erst, als sie getrunken hatte – und so beschloss sie, nicht mehr zu fahren.

Ein Bekannter nahm sie und ihren Freund mit, kurz vor Untereisenheim setzte er die beiden ab, sie wollten nach Hause laufen. Theresa war am rechten Fahrbahnrand unterwegs, als der dunkelblaue Golf sie mit etwa 60 bis 80 km/h gegen 3.40 Uhr erfasste. Ihr Hinterkopf knallte auf die Windschutzscheibe, sie wurde 13 Meter weit in ein Feld geschleudert. Ihr Freund wählte den Notruf.

Fahrt fortgesetzt

Es muss ein enormer Knall gewesen sein, die Windschutzscheibe auf der Beifahrerseite des Golfs splitterte. Doch Niclas H., damals 18 Jahre, und seine drei Kumpels, alle 19 Jahre, alle betrunken, setzen ihre Fahrt fort. In Untereisenheim stiegen die drei Mitfahrer aus. Niclas H. fuhr weiter, und nach 900 Metern setzte er den Golf in einen Graben. Als die Rettungskräfte kamen, saß er ohnmächtig hinter dem Steuer.

In jener Nacht gewann ein Sanitäter den Eindruck, dass H. diese Ohnmacht nur spielte, sozusagen die Augen vor seiner eigenen Schuld verschloss. H. behauptete bei der Polizei, unschuldig zu sein.

Kein Notruf abgesetzt

Viel später, vor Gericht, klagte H. über Erinnerungslücken. Ist denkbar, dass er tatsächlich nicht fuhr, als Theresa erfasst wurde? Wie konnte es in jener Nacht nur soweit kommen? Vier junge Männer in einem Auto, die gesehen haben mussten, wie die Frau durch die Luft geschleudert wurde. Doch keiner von ihnen setzte zumindest einen anonymen Notruf ab.

Bis heute reißen die Gerüchte in Unterfranken nicht ab. Wie kam es zu dem Unfall, wer fuhr, was geschah zwischen dem ersten und dem zweiten Unfall? Die Jugendlichen stehen alle im Berufsleben, jeder von ihnen hat eine Ausbildung absolviert – doch einige von ihnen sind schon früher mit dem Gesetz in Konflikt geraten, einer hatte bereits früher alkoholisiert Fahrerflucht begangen.

Kunstvoller Drift

Vor dem Amtsgericht bekundeten auch die drei Mitfahrer Scham, doch keiner von ihnen ging nach dem Unfall, geplagt von Reue, freiwillig zur Polizei. Im Amtsgericht wurden alle drei wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen zwischen 1000 und 2000 Euro verurteilt. Damals wurde auch ein Psychiater gehört, er schloss nicht aus, dass Niclas H. zum Zeitpunkt des Unfalls aufgrund seines Rausches schuldunfähig war – und so kam für das Gericht eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nicht in Betracht. Was blieb, war der fahrlässige Vollrausch. Doch die Ermittler hatten Zeugen ausfindig gemacht, die gesehen hatten, wie Niclas H. im Golf auf dem Parkplatz kunstvoll driftete. Nur kurze Zeit später soll er alkoholbedingt nicht mehr in der Lage gewesen sein, seine Handlungen zu beherrschen?

"Ein Auto steuern zu können, aber gleichzeitig davon auszugehen, dass man unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln klingt nach einem Widerspruch, den es aufzuklären gilt", so Philipp Schulz Merkel. Der promovierte Anwalt aus Nürnberg vertritt die Familie in der Berufung.

Gutachter, so heißt es im Gesetz, sind Gehilfen der Richter. In Straf- und Zivilprozessen wird um Pfusch am Bau und ärztliche Kunstfehler gestritten, und Richter benötigen Fachleute, um Sachverhalte zu beurteilen. Doch Gutachter müssen ergebnisoffen prüfen, urteilen müssen die Gerichte selbst. Das Ergebnis eines Gutachtens einfach zu übernehmen, bedeutet, dass sich der Richter selbst entmündigt.

Zweifel an erstem Gutachten

Anwalt Schulz Merkel zweifelt an dem ersten Gutachten. Wie soll Niclas H. erst auf dem Parkplatz enge Kreise drehen und sich anschließend alkoholbedingt überhaupt nicht mehr kontrollieren können?

Tatsächlich hat das Gericht ein neues Gutachten in Auftrag gegeben. Gefragt ist nun Hans-Ludwig Kröber, er leitete 20 Jahre das Institut für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin und gilt als einer der profiliertesten Gerichtsgutachter des Landes. Allein, dass die Wahl auf ihn fiel, wirkt, als hätte das Gericht nun einen "Obergutachter" gesucht.

"Auch ein hohes Strafmaß bringt uns Theresa nicht zurück", sagt Ronald Stahl. "Aber wir wollen ein Urteil, das wir auch verstehen können." Die Familie bewältigt ihre Trauer auch mit der Aktion "Gegen Alkohol am Steuer": Symbol ist ein Pfeil – diesen Pfeil trug Theresa als kleines Tattoo auf ihrer linken Ferse. Der Pfeil bildete ihr Lebensmotto ab: Immer nach vorne blicken.