"Er ist kein Mörder": Einblicke in die Ansbacher Forensik

27.10.2014, 06:00 Uhr
Straftäter, denen eine psychische Krankheit bescheinigt wird, kommen zur Behandlung in die forensische Psychiatrie.

© colourbox.de Straftäter, denen eine psychische Krankheit bescheinigt wird, kommen zur Behandlung in die forensische Psychiatrie.

Die Bilder in seinem Kopf rasten, er sah einen Film, der in seinem Hirn ablief und ihm „echt wie die Realität“ vorkam. Außerirdische versuchten, die Menschen in Dosen zu pressen. Im Wahn erstach er seinen ahnungslosen Nachbarn, weil er sich von ihm bedroht fühlte. Bring ihn um!, flüsterten ihm die Stimmen ein. „Ich bereue meine Tat zutiefst. Ich bin ein Mörder“, sagt er. „Er ist kein Mörder — er ist ein Patient, er ist krank“, sagt Chefarzt Joachim Nitschke (44).

Der Mann leidet an Schizophrenie, dem gespaltenen Geist, dem klassischen Verrückt-Werden, wie es der Chef der Klinik für Forensische Psychiatrie am Bezirksklinikum Ansbach ausdrückt. „Die Gedanken reißen ab, als wenn jemand anderes sie kontrolliert“, so der Neurologe und forensische Psychiater. „Es kann zu Wahnvorstellungen führen, man hört Stimmen und Geräusche, leidet an Verfolgungswahn und Halluzinationen.“

Der 16-jährige Jugendliche, der als Nächster zur Visite in der Bibliothek der Station 17/2 kommt, hat im schizophrenen Wahn fast einen Mitschüler erstochen. Der Junge überlebte nur, weil der Angreifer übersehen hatte, dass sein Messer noch in einer Scheide steckte. Es gehe ihm besser, bekundet der 16-Jährige der Runde aus Chefarzt Dr. Nitschke, Oberarzt Georgi Georgiev (46), Psychologin Tanja Bollert, Sozialpädagogin Svenja Getzlaff, Krankenschwester Marina Lich und Pfleger Andreas Öhl, dem Leiter der Aufnahme- und Akutstation. Die Medikamente schlügen an, behauptet der Patient, er höre keine Stimmen mehr.

Sicherung und Besserung

Wer Straftaten begangen hat und vom Gutachter als psychisch krank eingestuft worden ist, wird nach Paragraf 63 in die forensische Psychiatrie eingewiesen; dort befassen sich die Teams mit der Einschätzung des Gefährlichkeitsgrades und behandeln die Patienten. Dies ist ebenso Gegenstand des sogenannten Maßregelvollzugs (Maßregeln der Sicherung und Besserung) wie suchtkranke Straftäter, die nach Paragraf 64 untergebracht sind. In der erst im Oktober 2013 bezogenen, hellen Klinik in Ansbach fällt es leicht, beide Personengruppen auf getrennten Stationen unterzubringen und den Handel mit Rauschgift dadurch einzudämmen.

Der nächste Patient bei der Visite ist 40 Jahre alt und hat die Hälfte seines Lebens in der Forensik verbracht. Ihm werden massive Gewalttaten mit Schraubenzieher und Molotow-Cocktail unter Drogeneinfluss vorgeworfen. Er beruft sich auf Gustl Mollath und klagt an: „Das hier ist ein rechtsfreier Raum.“ In seiner Zeit in der Hochsicherheitsforensik in Straubing, so wettert er weiter, hätten ihn Sicherheitsleute mit Schilden aus der Isolationszelle geschleppt und fixiert, weil er ein Tischbein abgebrochen habe, um auf sich aufmerksam zu machen. Er habe „keine Schizo“, er verweigere auch in Ansbach die Einnahme von Medikamenten. Der Chefarzt schüttelt den Kopf, er bleibt skeptisch, ob der Patient ohne Medikamente draußen in Freiheit drogenfrei und somit frei von schizophrenen Psychosen bleiben würde. Dennoch stellt Nitschke die nächste Lockerungsstufe in Aussicht. Aber der Patient glaubt ihm nicht.

19 Personen leben momentan auf Station 17/2, meist in Doppelzimmern. Ein Kranker nach dem anderen stellt sich der Visite. Nitschke, der auf Teamarbeit schwört und ein modernes Therapiekonzept verficht, hält nichts von der herkömmlichen Form, bei der ein Trupp von Medizinern in ein Zimmer einfällt. Er setzt auf die möglichst bequeme Atmosphäre eines Gruppengesprächs in der Bibliothek.

Devot setzt sich der unscheinbare Mittfünfziger, der Schlagzeilen gemacht hatte, als er in Nürnberg im paranoiden Wahn einem flüchtigen Bekannten den Bauch aufschlitzte, weil er sich verflucht und verhext fühlte — das Opfer wurde nur durch die glückliche Fügung gerettet, dass Sanitäter und Notarzt am Tatort vorbeikamen. Momentan höre er — unter dem Einfluss der Neuroleptika — keine Frauenstimmen mehr, die ihn bedrängen, bekundet der Täter. Würde er sich weigern, weiter Medikamente zu nehmen, würde das Team das akzeptieren — wenn auch mit Bedenken. Zwangsmedikation komme nicht in Frage, so Nitschke, schon gar nicht seit einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom Sommer 2012, demzufolge eine gesetzliche Grundlage für die zwangsweise Gabe von Medikamenten fehlt und der Gesetzgeber handeln muss.

Joachim Nitschkes Kollegen im Bezirkskrankenhaus Taufkirchen (Vils) haben daraus Konsequenzen gezogen, die scharf kritisiert werden. In der Frauenforensik dort lässt man von Zwangsmedikation die Finger, stattdessen werden Patientinnen häufig und über lange Zeiträume hinweg zwangsfixiert, also ans Bett gefesselt — in einem Fall 80 Tage lang. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Verantwortlichen.

„Das ist ein Rückfall ins Mittalter“, kritisiert Nitschke. Fixierung dürfe nur das allerletzte Mittel bei Fremd- oder Selbstgefährdung eines tobenden Menschen sein. Doch hier zieht der Ansbacher Chefarzt eine Spritze mit einem beruhigenden Medikament vor — auch ein Zwangseingriff, das räumt er ein, doch allemal verantwortungsvoller, als einen Patienten, der in einer Psychose den Teufel im Eck stehen sieht, stundenlang zu fesseln und ihn der Qual auszusetzen, weiter Angstzustände zu durchleiden.

Andreas Öhl (50), Stationsleiter der 17/2, hält auch nichts vom Festschnallen eines Menschen am Bett im Isolationszimmer (Jargon: „Iso“), mit Gurten, wahlweise an fünf Körperstellen oder an neun. Die Pfleger haben im Schrank nur Handfesseln für den Fall, dass jemand ausrastet, kein Pfefferspray, keine Stöcke. Freilich: Wenn jemand Alarm auslöst über seinen Funkfinger, dessen System der Sicherheitsbeauftragte Wolfgang Schlögl (57) ausgetüftelt hat, dann sind sofort sechs, sieben Pfleger zur Stelle. Diese von vielen Patienten als Machtdemonstration empfundene Übermacht erklärt sich daraus, dass bei Alarm automatisch von jeder anderen Station ein Helfer losläuft.

Aber solche Zwischenfälle seien selten, erzählt Chefpfleger Öhl. „Unsere Waffe ist das Wort“, sagt er. „Hart in der Sache, aber weich in der Beziehung.“ Eine Art Milieu-Therapie nennt Chefarzt Nitschke die Arbeit der Pflegekräfte auf Station.

Da geht es darum, dafür zu sorgen, dass die Männer aufstehen, Körperpflege machen, einen geregelten Tagesablauf organisieren. Dass sie sich auf Gesprächstherapie einlassen, auf Arbeitstherapie, Ergotherapie, Kunst- oder Musikgruppe.

Und dass sie das System der stufenweisen Lockerungen akzeptieren, vom Hofgang über den begleiteten Spaziergang auf dem gesamten Gelände des Bezirksklinikums und dem Freigang allein in der Stadt bis zum Wohnen daheim mit nur noch regelmäßigen Besuchen in der Klinik mit einer Blutprobe zur Kontrolle auf Drogen und regelmäßige Medikamenten-Einnahme.

Freilich: Mag das Therapie-Konzept noch so modern sein, unbestreitbar muss der Patient in der Forensik sich dem System unterordnen, also mitspielen, um sich die Chance zu erarbeiten, wieder herauszukommen. Wer sich konsequent verweigert, bleibt verwahrt.

Sechsjähriger schlägt Kinder

Der Mittdreißiger, der im Drogenrausch extrem gewalttätig geworden ist und nun vor der Visite sitzt, hofft auf die nächste Lockerungsstufe. Er will bei seiner Frau sein, seinen sechsjährigen Sohn besuchen, der selbst in der Jugendpsychiatrie sitzt, weil er andere Kinder massiv geschlagen hat. Psychisch kranke Eltern und genetisch geprägte Kinder, die Forensiker kennen solche Familiengeschichten: „Ganz oft werden Opfer wieder zu Tätern, das geht über Generationen.“

Zehn Prozent der Patienten in Ansbach leiden an paranoiden oder narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, die das gesamte Denken und Handeln umfassen und bei bestimmten Situationen und schwerer seelischer Abartigkeit Gewalt auslösen. Weitere zehn Prozent sind Sexualstraftäter.

„Wir machen den besten Opferschutz“, deklamiert Forensiker Nitschke. Die Rückfallquote in Ansbach liegt bei Schizophrenen bei zwei bis drei Prozent, bei Sexualstraftätern bei fünf Prozent. Im Gefängnis sind die Rückfallzahlen viel höher: 25 Prozent bei Vergewaltigern, über 50 Prozent bei Pädophilen.

Der 60-Jährige mit den langen grauen Haaren, der Künstlermütze und den vielen Amuletten um den Hals fühlt sich wohl im Haus 8 für chronisch Kranke in Ansbach. „Ich will hier nicht mehr weg, warum auch? Das Essen ist gut, ich bin versorgt.“ Er malt großformatige Bilder auf seinem Zimmer. Jetzt muss er wieder dorthin zurück, er will malen. Typ verwirrter Künstler.

Er hat zwei Kinder missbraucht und umgebracht. Die Rückfallgefahr, verbunden mit Drogen, verbietet seine Freilassung. Er wird hierbleiben.

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