Zum Tod von Heinz Rühl

Erlangen verlor eine Fußball-Seele

Christoph Benesch

Erlangen

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18.3.2022, 14:00 Uhr
Heinz Rühl vor seinem "Profi Sport Shop" in der Luitpoltstraße.

© Klaus-Dieter Schreiter Heinz Rühl vor seinem "Profi Sport Shop" in der Luitpoltstraße.

Es gab eine Zeit, da hatte ich Angst vor ihm. So sehr, dass ich meine verdreckten Puma-King-Fußballschuhe heimlich an meiner Mutter vorbei ins Kinderzimmer schmuggelte, um sie dort stundenlang einzufetten und mit dem Bastelkleber meiner Schwester verzweifelt versuchte, die aufgerissene Naht doch irgendwie zurück an die Sohle zu pappen. Es half alles nichts: Papa hatte zuvor beim Schuhebinden den Kopf geschüttelt und "da brauchen wir Neue" gesagt. Und das bedeutete, wie bei jedem Fußballer dieser Stadt, der in diesen Jahrzehnten irgendwo zwischen Frauenaurach, Dechsendorf, Großenseebach und der SG Siemens spielte: Es geht zu Heinz Rühl in die Luitpoltstraße.

Eine Seele von einem Menschen

Zu einem kauzigen, wie drahtigen kleinen Mann, dessen grauer Haarkranz manchmal fast bis auf die Schultern fiel. Einem Mann, auf dessen Zähnen die vielen Zigaretten Spuren hinterlassen hatten und dessen Lachen in etwa so klang wie wenn man sich auf eine Tüte Kartoffelchips setzt. Und Heinz Rühl lachte viel. Er war - das konnte ich als Kind nur noch nicht erkennen - das, was man eine Seele von einem Menschen nennt: voller Hilfsbereitschaft, freundlich, unfassbar spendabel mit einem Herzen mindestens so groß wie ein Ballnetz.

Wenig später, auf einem dieser vielen Jugendturniere, teilten sich plötzlich zwei Mannschaften den dritten Platz. Es gab aber nur einen Preis. Also rief irgendjemand in der Luitpoltstraße an - und wenig später kam Heinz Rühl eben mit einem weiteren Satz Trikots und Fußbällen vorbei. Und mit Medaillen, die keiner bestellt hatte. Er hatte sie mitgebracht, um sie den Letztplatzierten zu schenken. Ich hab meine noch, oben im Schreibtisch.

Die Schuhe banden wir nun selbst

Wir alle wurden älter. Wir merkten das daran, dass wir plötzlich über das ganze Feld spielen mussten. Die Schuhe, natürlich gekauft beim Heinz, banden wir nun selbst. In der Kabine drehten sich die Gespräche nicht mehr nur über Matthäus, Maradona und Klinsmann, sondern auch über Mädchen. Und Heinz Rühl war immer noch da und mit ihm sein Lachen, seine gute Laune und seine Herzlichkeit.

Man traf ihn weiter regelmäßig, spätestens zum Finale war er immer da, die Zigarette in der Hand und diesen Ohrring im Ohr, um danach seine Preise zu überreichen. Wir spielten in Fußball- und in Hallenschuhen aus seinem Laden, wir trugen Trikots mit dem Aufdruck "Profi Sport Shop Heinz Rühl", wir hatten Schienbeinschoner aus der Luitpoltstraße, wir packten all das in Taschen von Heinz Rühl, ja, wir liefen im Schullandheim in Rühl-Regenjacken durch den Sommerregen von Pottenstein. Wir freuten uns, immer wenn es in die Luitpoltstraße ging. Wo Papa von ihm völlig unironisch "Eddie-Boy" genannt wurde und wir heimlich auf den Taxiplätzen parkten und aus den Schaufenstern mit dem grünen Aufkleber spitzten, um das Auto wegfahren zu können. Wir Fußballer gingen mit Stolz hinein in den Laden, es roch dort überall so, wie Lederbälle riechen, wenn man die Nase nah genug daran hält. Und es stand "Profi Sport Shop" auf dem Schild. Und da wollten wir ja alle hin, in den Profifußball.

Keine Produkte mit drei Streifen

Heinz Rühl hatte den gesehen, als Bayernligafußballer, damals, als er dort mit Herzogenaurach vor Tausenden gegen den TSV 1860 spielte. Weil man Amateuren damals noch nichts bezahlte, besorgte man Heinz Rühl eben einen Job. So lernte er Puma-Chef Dassler persönlich kennen und versprach ihm, er erzählte das bei einer Bratwurst bei der Jugendstadtmeisterschaft, niemals Produkte mit drei Streifen zu verkaufen. Und so trug eine ganze Jugendfußball-Generation in Erlangen nur Puma King.

Hinter der Kasse hing ein Bild von Heike Drechsler, der Olympiasiegerin im Weitsprung. Mit ihrem Mann hatte er nach der Wende einen Puma-Laden in der Partnerstadt Jena eröffnet. "Von der Heike", erzählte er daher oft und brachte die glitzernde Welt des großen Sports ganz nebenbei nach Erlangen.

"Meine Mädels"

Als ich ihm eines Tages erzählte, dass ich mit Fußball aufgehört habe, war Heinz Rühl ehrlich traurig. Wenige Wochen zuvor hatte ich ihn sogar weinen sehen, mein Vater war gestorben. Es tat ihm weh - es gab ja kaum jemanden außer den beiden, die so dicht dran waren an den Sportplätzen zwischen Frauenaurach, Erlangen-Bruck, dem Turnverein und der SG Siemens.

In einer besonderen Mischung aus Freude, Stolz und Verzweiflung erzählte er dann, dass er sich schon wieder hatte von "seinen Mädels" überreden lassen, er meinte die Damenmannschaft des FC Dechsendorf. Anfangs, sagte Rühl, habe ihn fast der Schlag getroffen: "Die konnten keinen Ball stoppen", aber sie ließen ihn nicht mehr gehen. Und so brachte er ihnen eben das Stoppen bei, stieg mit ihnen auf, ließ sich auf der Bergkirchweih feiern und feierte sie noch viel mehr, "seine Mädels". Es war ein später Glücksfall, dass Heinz Rühl seine Liebe zu den Menschen und zum Erlanger Fußball noch einmal so innig schenken konnte, als wir, die mit ihm groß geworden waren, unsere Puma-Schuhe schon an den Nagel gehängt hatten. Auch er tat das dann irgendwann, ganz leise. Ich weiß nur noch, wie ich erschrak, als ich mit meinem kleinen Sohn in der Luitpoltstraße stand, seine ersten Fußballschuhe kaufen wollte - aber dort nur noch einen Bioladen vorfand.

Heinz Rühl ist vor wenigen Tagen gestorben. 76 Jahre wurde er alt. Ich muss immer an ihn denken, wenn ich mit meinen Kindern im Garten spiele und manchmal heimlich den Fußball schnappe, ihn ganz nah an die Nase halte, um an ihm zu riechen.

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