Rehabilitation mittels KI

Erlanger Forscher entwickeln intelligenten Anzug

31.5.2023, 13:25 Uhr
Bei der Rehabilitation soll nun auch Künstliche Intelligenz eingesetzt werden.

© imago images/Panthermedia/Antonio Guillem Bei der Rehabilitation soll nun auch Künstliche Intelligenz eingesetzt werden.

Ein intelligenter Anzug soll die Rehabilitation nach schweren Rückenmarksverletzungen wesentlich verbessern. Die KI-gestützte Lösung wird in den kommenden drei Jahren von Forschenden der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) gemeinsam mit der Universität und dem Universitätsklinikum Heidelberg entwickelt. Er vereint die elektrische Stimulation von Muskeln und die Bewegungsunterstützung durch künstliche Sehnen und reagiert auf die individuelle Bewegungsabsicht der Patientinnen und Patienten. Das Projekt „HIT-Reha“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit insgesamt rund einer Million Euro gefördert, 357.000 Euro entfallen davon auf die FAU.

Verletzungen des Rückenmarks infolge von Verkehrs- und Sportunfällen, Tumoroperationen oder Infektionen bedeuten einen tiefen Einschnitt in das Leben der Betroffenen. Alltägliche Verrichtungen wie Essen und Trinken, Ankleiden oder Körperpflege sind nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich. Nicht immer sind solche Traumata jedoch irreversibel – sind beispielsweise die langen Nervenfasern nicht vollständig vom Hirn getrennt, verbleibt eine motorischen Restkontrolle. „In solchen Fällen bestehen gute Chancen, zumindest einen Teil der Bewegungsfähigkeit wiederzuerlangen“, sagt Prof. Claudio Castellini vom Lehrstuhl für Assistive Intelligente Robotik der FAU. „Vor allem in den ersten zwölf Monaten nach der Verletzung ist das Regenerationspotenzial durch Neubildung und -vernetzung der Neuronen groß.“

Die Rehabilitation der Arm- und Handfunktion basiert hauptsächlich auf der wiederholten Ausführung von Bewegungsaufgaben – die Patienten müssen beispielsweise einen Zylinder greifen und an einem bestimmten Ort abstellen. Bei diesen Aufgaben werden die Patienten von qualifizierten Therapeutinnen und Therapeuten, zum Teil aber auch von Robotern unterstützt. Zum Einsatz kommen zum Beispiel die Funktionelle Elektrische Stimulation (FES), bei der Elektroden gezielte Muskelkontraktionen auslösen, oder sogenannte Exoskelette oder -anzüge. Hierbei handelt es sich um Orthesen, die mittels Seilzüge oder aufblasbarer Luftkammern einen Teil der Bewegungskraft übernehmen.

„Trotz großer Fortschritte in den vergangenen Jahren entsprechen die aktuellen Therapiemaßnahmen nicht den Prinzipien des motorischen Lernens“, erklärt Castellini. „Zum einen werden besonders schwache Muskeln nicht hinreichend angesprochen, zum anderen werden die Betroffenen nicht aktiv in die Ausführung sinnvoller motorischer Aufgaben einbezogen. Erfahrungsgemäß nimmt dadurch das Engagement der Patientinnen und Patienten im Laufe der Zeit ab.“ Aus diesen Gründen – und weil aktuelle Reha-Maßnahmen nicht hinreichend auf individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten zugeschnitten sind – werde das Therapiepotenzial nicht ausgeschöpft. Gemeinsam mit dem Institut für Technische Informatik der Universität Heidelberg und der Sektion Experimentelle Neurorehabilitation des Heidelberger Universitätsklinikums entwickelt Claudio Castellini einen Anzug, der den Therapieerfolg nach Rückenmarksverletzungen deutlich steigern soll.

Der aus Kompressionsjacke, Unterarmmanschette und Handschuh bestehende Exo-Suit vereint bisherige Unterstützungssysteme wie FES und Seilzugmechanik – wird jedoch um eine entscheidende Komponente erweitert: die KI-gestützte Erkennung der Bewegungsabsicht der Patienten. „Integrierte Sensoren sollen die Muskeltätigkeit messen“, erklärt Marek Sierotowicz, der im Rahmen des Projektes promovieren wird. „Selbstlernende Algorithmen errechnen aus diesen Werten die motorische Intention der Betroffenen und richten die Assistenzsysteme gezielt darauf aus.“ Konkret bedeutet das: Die KI sagt dem FES-System und dem Exo-Suit, an welchen Stellen Muskelkontraktionen ausgelöst bzw. welche Seilzüge gespannt werden, um die beabsichtigte Bewegung zu unterstützen.

Die Kontrolle der Bewegungsabsicht wird vorwiegend an der FAU entwickelt. Damit sie funktioniert, muss zunächst ein vollständiges virtuelles Modell der anatomischen Muskel- und Skelettstruktur aufgebaut und entsprechend trainiert werden. „Unsere Voruntersuchungen werden wir mit nichtbehinderten Personen durchführen und dabei möglichst viele Daten sammeln“, sagt Sierotowicz. „Je besser wir die KI trainieren, umso zuverlässiger ist die Erkennung der Bewegungsmuster und umso gezielter können später die Assistenzsysteme arbeiten.“ Das ist nicht nur für eine präzise Bewegungsunterstützung notwendig – das intelligente Zusammenspiel von FES und Zugrobotik sorgt zugleich für eine schonendere Therapie: Erfahrungen zeigen, dass der alleinige Einsatz der FES eine hohe Stimulationsintensität erfordert und von den Betroffenen häufig als unangenehm empfunden wird. Die Forschenden sind überzeugt, dass ihre Entwicklung zu einer signifikanten Verbesserung des Rehabilitationserfolgs nach Rückenmarksverletzungen beitragen wird.

Das auf drei Jahre angelegte Projekt „HIT-Reha“ – die Abkürzung steht für „Human Impedance control for Tailored Rehabilitation“ – startet jetzt. Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit insgesamt rund einer Million Euro gefördert, die FAU erhält 357.000 Euro. Die Förderung ist ein erneuter Beweis der besonderen Expertise der Universität Erlangen-Nürnberg als Innovationsstandort und Knotenpunkt für Künstliche Intelligenz in der Medizin. Die Professur von Claudio Castellini wurde am Department Artificial Intelligence in Biomedical Engineering (AIBE) eingerichtet. Das AIBE ist Ende 2019 im Rahmen Hightech Agenda Bayern entstanden und arbeitet interdisziplinär und fachübergreifend an der Schnittstelle zwischen Medizin und Ingenieurwissenschaften.

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