Klare Entscheidung für das Kind
15.10.2009, 00:00 Uhr
Im Universitätsklinikum, in dem man gestern vor großem Medienandrang mit Details an die Öffentlichkeit ging, gibt man auf diese Frage klare Antworten. Anjas Fall (Name der Mutter geändert) ist für die Erlanger Ärzte nicht nur eine medizinische Sensation. «Wir haben uns rechtlich immer auf sicherem Gelände bewegt», sagte Prof. Matthias W. Beckmann, Direktor der Frauenklinik. Stets habe man das Ethikkomitee des Klinikums einbezogen, auf den Schutz der Mutter ebenso geachtet wie auf das Wohl des ungeborenen Jungen, den die Ärzte in der 34. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt holten.
Dabei hatte keiner der Mediziner damit gerechnet, dass es die Frau überhaupt in die Endphase der Schwangerschaft schaffen würde: Es war der Heiligabend des Jahres 2007, als Beckmann zu Hause mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt war und ihn das Telefon abrupt unterbrach.
Ein Krankenhaus aus dem Umland bat um die Verlegung einer 40-Jährigen, die in der 13. Schwangerschaftswoche einen Herzinfarkt erlitten hatte und jetzt im Wachkoma lag. Man könne nichts mehr für sie tun, hieß es. Die Frau ablehnen? Für das Klinikum als so genannten Maximalversorger unmöglich. Also holte Beckmann umgehend die Spitzen des Klinikums zusammen, denn eine schwangere Wachkoma-Patientin war bislang in der medizinischen Literatur nicht beschrieben worden. «Sollte das Kind lebensfähig und gesund sein, war klar, dass wir uns für das Kind entscheiden würden», beschreibt Beckmann die ersten Entscheidungen.
Doch Anja R. brachte massive Risikofaktoren mit. Sie war Diabetikerin, hatte geraucht und war stark übergewichtig. Sie musste beatmet werden, litt an verschiedenen Infektionen, einem Geschwür und galt als Spätgebärende. Und: Sie hatte nur noch eine Herzleistung von 25 Prozent. Allein diese Tatsache hätte das Leben der Patientin und das ihres Kindes jederzeit beenden können.
«Ich weiß, was wir können. Ich weiß, was wir dürfen. Aber was alles sollten wir tun?», umreißt Beckmann das damalige Dilemma, wie Mutter und Kind am besten zu versorgen waren, denn auf Erfahrungen mit einem derartigen Fall konnte niemand zurückgreifen.
Stillschweigen eingehalten
Anja R. erhält auf der Intensivstation ein Einzelzimmer. Ärzte, Pfleger und Studenten werden zu unbedingtem Stillschweigen verpflichtet, um die Familie zu schützen und um nicht noch einmal in die bedrückende Situation des Jahres 1992 zu geraten. Damals hatte man in Erlangen versucht, eine schwangere, aber hirntote junge Frau am Leben zu erhalten. Wenige Wochen später kam es zu einer Fehlgeburt. Die Kritik am Klinikum, auch auf Grund des Umgangs mit der Familie, war enorm.
Doch Anja R. zeigt ungeahnte Stärken. In den folgenden 22 Wochen, in denen sie in der Frauenklinik liegt, gelingt tatsächlich so etwas wie ein Wunder. Sie kann stabil gehalten werden, und alle Untersuchungen bis hin zum Kernspin zeigen, dass sich ihr Junge normal entwickelt - das entscheidende Argument vor der Krankenkasse, damit sie die am Ende sechsstelligen Kosten für die Intensivpflege auch übernimmt.
Ermöglicht haben diesen Erfolg nicht nur die beiden Kinder, die die Mutter immer wieder besuchen, sie ansprechen, streicheln und eigens aufgenommene Kassetten mitbringen. Hohen Anteil haben auch Schwestern, Pfleger und Physiotherapeuten, die die Patientin Tag für Tag im dreistündigen Rhythmus neu lagern, sie ebenfalls streicheln und mit ihr singen. «Da sind wir alle sehr stolz darauf, dass uns das über eine so lange Zeit hin so gut geglückt ist», sagt Schwester Andrea Maywald.
Stolz auf Erfolg
Stolz sind aber auch die Mediziner, die Anjas Jungen im Frühjahr 2008 nach einem Blasensprung entbinden. 2 390 Gramm wiegt der kleine Knirps: «Als das Kind geschrien hat, da wussten wir, dass wir einen guten Job gemacht haben», erinnert sich Beckmann. Dass die Mutter aus schwierigem sozialem Umfeld kommt, alle ihre Kinder unter der Obhut des Jugendamtes stehen und sie nie mehr aus dem Koma erwachen wird - das ist, bei allem medizinischem Erfolg, das Traurige an Anjas Geschichte.