Turmwächter mit besonderer Berufung

25.12.2019, 09:00 Uhr
Turmwächter mit besonderer Berufung

© Manuel Kugler

Der Beruf des Turmwächters, der im späten Mittelalter entstand und erst im frühen 20. Jahrhundert abflaute, beflügelte die Phantasie von Zeitgenossen und Schriftstellern. Goethe verewigte die Späher, die auf Kirch-, Stadt- und Schlosstürmen hausten, im "Türmerlied" seiner Tragödie "Faust II" und zudem in der Ballade "Totentanz".

Bezieht man die Kirchenglockenwärter mit in die Branche ein, so kommt man an Victor Hugos Helden, dem Glöckner von Notre Dame, nicht vorbei.

Diesen Mann namens "Quasimodo" kennt sicher auch in Neunkirchen so gut wie jedes Kind, es weiß aber wohl kaum, dass es am Heimatort ebenfalls mehr als 300 Jahre lang Türmer gab. Ihr Arbeitsplatz und Wohnsitz samt Familie war der mehrfach veränderte Kirchturm von St. Michael.

Der Turm wurde nach übereinstimmender Meinung des Landesamts für Denkmalpflege und des Stadtarchäologen Oliver Specht (1990/1993 Teilnehmer von Ausgrabungen an benachbarter Stelle) um 1270/1280 errichtet. Diese Datierung weicht auch kaum von einer Einschätzung des Kunsthistorikers Alexander Röder (getroffen 1926) ab.

Stufenweise erhöht

Es war ein Basisturm von vier quadratischen Geschossen, der dann in der Klosterzeit 1378 um ein achteckiges fünftes Geschoss erhöht wurde. In diesen Jahren entstand unter Bauleitung des Chorherren Conrad von Ortshofen (gest. 1398) der Kreuzgang. Dem bautechnisch versierten Konventsmitglied wird zudem die Errichtung der Kloster-Schreibstube und des "Nürnberger Hofes", einer repräsentativen Dependance des Chorherrenstifts in der Noris, zugeschrieben. Auch das fünfte Turmgeschoss könnte von Ortshofen stammen.

Noch immer gab es aber damals noch keine Türmer in Neunkirchen. Nach dem Tod des letzten Propstes und der Verwaisung des Neunkirchener Chorherrenstiftes kamen fürstbischöfliche Verwalter und Ortsgeistliche zum Zug. Laut der 1814 veröffentlichten Ortschronik von Franz Wenceslaus Goldwitzer ließ der erste Pfarrer nach der Klosteraufgabe, Johann Diez, dann im Jahr 1555 eine umlaufende Galerie zwischen dem vierten und fünften Geschoss anbringen. Unter einem seiner Nachfolger, Johann Wolf , kam 1578 ein sechstes Turmgeschoss hinzu, das eine Wachstube enthielt.

Türmer als Orchesterleiter

In der neu herausgekommenen Chronik "Neunkirchen am Brand – die Geschichte einer fränkischen Landgemeinde" schildert Mitautor Günter Dippold das enorme Arbeitspensum des Türmers, der samt Familie in sein Oberstübchen einzog und auf dem Wächtergang am Fuße des tiefergelegenen Glockenstuhls seine Kontrollrunden machte. Er musste nach eventuellen Brandherden, aber auch nach heranziehenden Feinden oder Einfällen von Räuberbanden Ausschau halten. Auf letztere hatten übrigens auch die Wächter ein Auge, welche die vier Stadttore bewohnten und kontrollierten.

Da für die Neunkirchener Türmer eine kirchliche Institution der Dienstherr war (die Seminarstiftung zahlte den Lohn, die Marktgemeinde steuerte spätestens ab 1738 Geld bei), hatten die Männer vom Turm eine wichtige Zusatzaufgabe: Sie mussten wie ihre Kollegen in anderen Kirchen noch in die Rolle eines Konzertmeisters schlüpfen.

Täglich waren morgens, mittags und abends ein paar Akkorde von der Turmbrüstung zu blasen. An Feiertagen griffen der Türmer und die von ihm ausgebildeten Orchestermitglieder zu Trompete, Posaune, Horn, Geige und manchmal auch zur Trommel, um den Kirchgängern geistliche Musik im Freien vorzutragen (ab 1600 auch in den Gotteshäusern). An Weihnachten wurden Sammelbüchsen fürs Orchester herumgereicht.

Das Musizieren bescherte den Akteuren eine Nebeneinnahme: Der Türmer hatte bei Festen ein Vorrecht auf Engagement und konnte lange Zeit bei Nichtberücksichtigung eine Entschädigung von Wirten verlangen.

Schweden nahmen Glocken mit

Der Wächterdienst auf hoher Zinne (Ausschau nach Gefahren) erfuhr häufig Unterbrechungsphasen. Der Kirchturm war keine feste Burg. Im Jahr 1632, so berichtet der Chronist Goldwitzer, ließ der schwedische Obrist Reinhard von Rosa bei einer Plünderungsaktion "von dem Thurme vier Glocken abwerfen– die größte wog 25 Zentner – und nahm das Erz mit sich fort". In der Epoche des Dreißigjährigen Krieges wie in auch in Seuchen- und Hungerjahren kam fast alles Leben zum Erliegen.

Turmwächter mit besonderer Berufung

© Repro: Heinz Göpfert

Schon im 2. Markgrafenkrieg, als 1552 Albrecht Alcibiades ins Hochstift Bamberg einrückte und sich unter anderem die Hofmark Neunkirchen vorübergehend einverleibte, konnte ihn kein Sturmblasen von oben Einhalt gebieten.

Umso unverständlicher erscheint, dass der Kirchturm später in Friedenszeiten außer Gefecht gesetzt wurde, und das kam so: Am 15. Mai 1809, nachmittags zwischen drei und vier Uhr geriet der Turm in Brand. Nach der Version der Chronisten Martin Förtsch (1966) und Wilhelm Held (1973) war ein Blitzschlag die Ursache.

Die Köchin im Verdacht

Auch die Heimatforscher Hanni und Peter Bail erwähnen in einer Abhandlung aus den neunziger Jahren diese Version. Sie wiesen aber auch auf ein Schriftstück des damaligen Pfarrers Johann Georg Kauper hin.

Dieser schrieb: "Angeblich soll der Blitz eingeschlagen haben, aber die Leute sagen, die Türmerin habe durch brennendes Schmalz das Unglück angestellt." Der Erlanger Wolfgang Blos (1952, "Rund um den Martinsbühl") hält ebenfalls "Unvorsichtigkeit des Türmers" für die Brandursache.

Alles musste danach schnell gehen, zumal auch beträchtlicher Löschwasserschaden eingetreten war; unter anderem an den Deckengemälden in der Kirche und den Malereien im Kreuzgang.

Rasch wurden die beiden Obergeschosse im Turm durch Neubauten ersetzt und Wächterwohnung und Umlauf verschwanden. Marktgemeinde und Landgericht forderten noch Jahre später aus Sicherheitsgründen eine Wiederherstellung des alten Zustands auf dem Turm, die Bamberger kirchliche Seminarstiftung wollte oder konnte dies nicht finanzieren.

Noch zirka 100 Jahre lang wurden Türmer beschäftigt, aber wohnten unter anderem im Mesnerhaus am Klosterhof und blieben wie startunfähige Flugzeuge flügellahm am Boden. Direkt an den Kirchturm — eine Kuriosität — wurde aber 1863 ein Feuerwehrgerätehaus angebaut.

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