Streit um "Stadtluft macht frei"

Expertin erklärt: So sollten wir mit Nazi-Sprache umgehen

30.4.2019, 05:34 Uhr
Was die Deutschen nach Ansicht der Nationalsozialisten lesen sollten, veranschaulichte vor einigen Jahren die Ausstellung „WortGewalt“ im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände.

© Eduard Weigert Was die Deutschen nach Ansicht der Nationalsozialisten lesen sollten, veranschaulichte vor einigen Jahren die Ausstellung „WortGewalt“ im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände.

Frau Ronneberger-Sibold, die Landesausstellung im kommenden Jahr sollte eigentlich "Stadtluft macht frei" heißen. Weil Charlotte Knobloch die sprachliche Nähe zu "Arbeit macht frei" kritisiert hatte, wurde die Ausstellung aber in "Stadt befreit" umbenannt. Wie empfindlich sollte man bei einer solchen rein sprachlichen Ähnlichkeit zu menschenverachtenden Nazi-Formulierungen reagieren?

Ronneberger-Sibold: Die Zitate haben inhaltlich und ihrem Verwendungskontext nach nichts miteinander zu tun. Die Assoziation zwischen ihnen beruht auf einer rein oberflächlichen Ähnlichkeit, nämlich dem gemeinsamen Prädikat "macht frei", das aber nicht im selben Sinn gebraucht ist, und dem Sprachrhythmus von "Stadtluft" und "Arbeit": eine stark betonte Erstsilbe plus eine weniger stark betonte Zweitsilbe. Man spürt den Effekt, wenn man ein Subjekt mit einem anderen Betonungsmuster wählt, zum Beispiel "Demokratie macht frei". In diesem Fall ist die Ähnlichkeit bereits deutlich geringer.

Die Sprachwissenschaftlerin Elke Ronneberger-Sibold, Jahrgang 1950, war von 1995 bis 2015 Professorin an der Katholischen Universität Eichstätt. 2009 war sie Initiatorin und Leiterin des internationalen und interdisziplinären Masterstudiengangs „InterculturAd Werbung interkulturell“ in Eichstätt und im finnischen Turku. Ronneberger-Sibold lebt in München.

Die Sprachwissenschaftlerin Elke Ronneberger-Sibold, Jahrgang 1950, war von 1995 bis 2015 Professorin an der Katholischen Universität Eichstätt. 2009 war sie Initiatorin und Leiterin des internationalen und interdisziplinären Masterstudiengangs „InterculturAd Werbung interkulturell“ in Eichstätt und im finnischen Turku. Ronneberger-Sibold lebt in München.

War die Umbenennung richtig, obwohl "Stadtluft macht frei" von den Nazis nie verwendet und missbraucht wurde?

Ronneberger-Sibold: Als Sprachwissenschaftlerin kann ich Ihnen nur erklären, worin die Ähnlichkeit zwischen den beiden Zitaten genau besteht. Wie weit man Rücksicht auf schlimme Assoziationen nehmen will, die für manche Mitbürger und Mitbürgerinnen durch diese Ähnlichkeit entstehen, ist eine politische und gesellschaftliche Frage. Persönlich denke ich, dass wir gerade in Deutschland gute Gründe haben, in dieser Hinsicht besonders rücksichtsvoll zu sein. Keinesfalls sollte man diese Frage jedoch zum Gegenstand eines "Kulturkampfes" werden lassen.

Über "Stadtluft macht frei" kann man also geteilter Meinung sein. Das gilt aber wohl nicht für typische Nazi-Begriffe wie "Volksverräter", "entartet", "lebensunwertes Leben" oder "Blut und Boden".

Ronneberger-Sibold: Natürlich nicht. Das sind zwei sehr unterschiedliche Sachverhalte. Wenn Begriffe von den Nazis geschaffen, usurpiert und im menschenverachtenden Sinne gebraucht wurden, sollte man natürlich die Finger davon lassen. Wenn man aber alle Zitate unterlassen soll, die auch nur eine Ähnlichkeit mit einem belasteten Zitat haben, wie eben bei "Stadtluft macht frei", dann geht das viel weiter.

Wie sensibel sollte man, abgesehen von den ganz offensichtlich und wohl für alle Zeiten verbrannten Wörtern, mit Begriffen umgehen, die die Nazis verwendet haben? Das Wort "Eintopf" etwa wurde auch erst durch die Nazis bekannt. Trotzdem wird "Eintopf" heute ganz selbstverständlich und ohne Hintergedanken verwendet.

Ronneberger-Sibold: Dabei sollte man es heute auch belassen. Ein Verbot oder auch nur das Abraten von dem Gebrauch bestimmter Wörter verlangt viel Fingerspitzengefühl. Die Menschen werden solche Maßnahmen nur akzeptieren, wenn sie in ihrer sprachlichen Gegenwart eine Motivation dafür erkennen, zum Beispiel eine herabwürdigende Konnotation, wie etwa heutzutage bei "Neger", oder ein sprachliches Ungleichgewicht, wie bei "Fräulein" gegenüber dem nichtexistentem "Herrlein". Nichts dergleichen gilt heute für "Eintopf". Daher würde ein Vorgehen gegen dieses Wort im besten Fall verständnisloses Kopfschütteln, im schlimmsten Fall die wütende Ablehnung einer unsinnigen Vorschrift "von oben" erzeugen.

An welchem Maßstab sollte man sich im alltäglichen Sprachgebrauch orientieren?

Ronneberger-Sibold: Die Sensibilität sollte man aus dem aktuellen Sprachgebrauch schöpfen, nicht aus irgendwelchen historisch motivierten Wörterverzeichnissen. Das ist der falsche Zugang. Konnotationen von Wörtern ändern sich im Lauf der Zeit. Wenn Begriffe keine Nazi-Konnotationen mehr haben, besteht auch kein Anlass dazu, quasi historisierend eine schon tote Konnotation wieder zu erwecken. Letztlich kann man niemanden mehr verletzen, wenn eine Konnotation niemandem mehr bewusst ist.

Die Nazis haben zum Beispiel "alttestamentarisch" abfällig und als Schimpfwort verwendet, letztlich als Synonym für "jüdisch". Viele Bibelforscher empfehlen deshalb, heutzutage lieber das Wort "alttestamentlich" zu verwenden.

Ronneberger-Sibold: Man sollte keine Verletzungsgefahr rekonstruieren, wo es keine mehr gibt, das geht am Zweck vorbei. Ein Verzicht ist nur sinnvoll, wenn man mit dem Wort Gefühle verletzen würde. Wenn man "alttestamentarisch" heute in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet, sehe ich darin kein Problem.

Andersherum gibt es Begriffe, die die Nazis nicht benutzt haben, die ihnen aber fälschlicherweise zugeschrieben werden. Wie sollte man mit solchen Wörtern umgehen, "Gutmensch" etwa, oder "Bombenwetter"?

Ronneberger-Sibold: Ich persönlich assoziiere mit diesen Wörtern keine Nazi-Vergangenheit. Aber wenn sie heute so verstanden werden, als ob die Nazis sie verwendet hätten und wenn man heute die Gefühle von Menschen damit verletzt, dann sollte man darauf verzichten. Entscheidend ist, welche Konnotation ein Wort heute hat.

Ähnlich wie "alttestamentarisch" wird heute ja in bestimmten Kreisen gerne das Wort "Altparteien" verwendet. Inwiefern knüpft da die AfD bewusst an die Methodik der Nazi-Sprache an?

Ronneberger-Sibold: Man sollte sehr hellhörig sein, wie Gedankengut durch Sprache transportiert wird. "Altparteien" ist ein gutes Beispiel für eine sprachliche Verunglimpfung der politischen Gegner, die aber nicht so offen daherkommt, dass man dagegen vorgehen könnte. Ich sehe in diesem Begriff keine Verbindung zu "alttestamentarisch", wohl aber zu "Altpapier", "Altkleider" oder "Alteisen". "Alt" wird hier im Sinne von "veraltet", "verdorben" oder "nichts mehr wert" verwendet. Im Gegensatz dazu stellt die AfD sich natürlich als eine neue, junge Partei dar, die angeblich den eigentlichen Willen der heutigen Bürger vertrete.

Eine weitere Parallele ist offenbar die häufige Verwendung des bestimmten Artikels. Bei den Nazis war das "der Jude" oder "der Russe", heute ist das zum Beispiel "das System".

Ronneberger-Sibold: Dies ist ein gutes Beispiel für den politischen Einfluss sogar der Grammatik. Durch die Verwendung des bestimmten Artikels vor allem mit einem Hauptwort in der Einzahl wie in "der Russe". Da wird sprachlich so getan, als ob alle Russen gleich wären, so dass man willkürlich einen herausgreifen könnte, um damit alle zu beschreiben. Ich finde das schlimm, weil man so Menschen ihre Individualität abspricht. Man sollte solche Dinge daher nicht gedankenlos nachplappern, bis man selbst davon vereinnahmt wird. Durch einen gedankenlosen Sprachgebrauch kann man sogar unabsichtlich seinen politischen Gegnern nützen. Ein Beispiel ist die heutige undifferenzierte Verwendung des politischen Begriffs "rechts".

Was stört Sie denn daran?

Ronneberger-Sibold: Nehmen Sie zum Beispiel eine Demonstration "gegen rechts": Richtet sie sich nur gegen die AfD, also eine Partei, die man früher als "rechtsextrem" bezeichnet hätte? Was aber ist dann mit den bisherigen "rechten" Parteien wie CDU/CSU und FDP? Sind die herkömmlichen bürgerlichen Parteien bei dem Protest "gegen rechts" mit gemeint? Das halte ich für eine übermäßige, ja gefährliche Verallgemeinerung, ähnlich wie bei "der Russe". Sie erschwert einen rationalen Dialog zwischen politischen Gegnern. Wir sollten uns gut überlegen, ob wir durch unseren Sprachgebrauch einer derartigen Radikalisierung der politischen Kultur Vorschub leisten wollen.

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