Das Fenster zur Seele Anatoliens

6.12.2010, 18:44 Uhr
Das Fenster zur Seele Anatoliens

© Ufuk Kirca

Anatolien, das türkische Kernland, das der Durchschnittsdeutsche gerne als einen Ort der Armut und „Rückständigkeit“ betrachtet, ist für die Filmemacher aus Thuisbrunn eine ideale Folie zur Veranschaulichung des Chauvinismus in Europa. Es sind die Drohungen vom Untergang des Abendlandes eines Thilo Sarrazin und seine Hasspredigten auf „türkische Kopftuchmädchen“, die deutsche Sozialkassen plünderten, gegen die Menzel/Suzan als „Heilmittel“ den „anatolischen Humanismus“ setzen.

Wo gibt es heute einen größeren Propheten dieser Humanität als den legendären türkischen Volkssänger Asik Veysel. Der Bauernjunge aus dem kleinen Bergdorf Sivrialan war Zeit seines Lebens blind und – weil er nie eine Schule besuchen konnte – im Grunde genommen auch ein Analphabet. Aber gleichzeitig der Lehrmeister vieler türkischer Poeten und Songwriter.

Veysel inspiriert Rockmusiker

In der Welt der Aleviten hat Veysel – er starb 1973 im Alter von 78 Jahren – die Tradition des Bardentums zum Höhepunkt gebracht. Und mit seiner Saz (Laute) und den Liedern zum Beispiel Weltmusiker wie den Pianisten Fazil Say, der oft bei den Salzburger Festspielen auftritt und jüngst bei einem Konzert in Erlangen stürmisch gefeiert wurde, stark beeinflusst.

Sogar der türkische Popsänger Harkan und der britische Rock-Star Phil Collins sind Veysels ländlicher und sehnsuchtsvoller Musik verfallen. Beide ließen auch schon mit jeweils eigenen Interpretationen von Veysels bekanntestem Lied aufhorchen: „Auf einem langen, schmalen Pfad wandle ich, laufe Tag und Nacht, ohne zu wissen, wie es um mich steht.“

Jochen Menzel ist begeistert von dem Volkspoeten Asik Veysel. „Seine Lieder sind von einer universalen Schönheit“, findet der Filmautor. Kein Wunder, steht der blinde Poet, der „uns ein Fenster zur Seele Anatoliens öffnet“ (Menzel), doch auf mächtigen geistigen Schultern. Yunus Emre (1238 bis 1321), der große Dichter und Denker, dessen Namen auch die Moschee der Forchheimer Muslime trägt, galt als Vorkämpfer der Volksmusik. Veysel, sagt Menzel, sei ein Glied in der von diesem Derwisch geschaffenen Kette gewesen, die das Wissen und die Empfindungen der Menschen in der Musik weitergibt.

In den „weltumspannenden Liedern“ des blinden Poeten, die „die großen fundamentalen Menschheitserfahrungen“ reflektieren und damit gegen eine kulturelle Abschottung stehen, spiegelt sich auch die karge Schönheit Anatoliens. Hier war Musik nie nur ein Klangerlebnis, sondern auch ein Mittel des Widerstandes, dessen Symbol die Laute war.

„Anatolia Blues — in Memoriam Asik Veysel“ von Jochen Menzel und Gülseren Suzan wird am Donnerstag, 9. Dezember, 19.30 Uhr, im VHS-Zentrum, Hornschuchallee, gezeigt.