"Erschütternd": 88 Missbrauchsfälle im Erzbistum Bamberg

16.1.2019, 07:00 Uhr

© Felix Kästle/dpa

Das, was gemeinhin als "sexueller Missbrauch" bezeichnet wird, ist extrem vielschichtig. Viele Menschen denken automatisch an eine Vergewaltigung, auch wenn das nur die schwerste und sicher nicht die häufigste Form der sexuellen Grenzverletzung ist. Doch bereits anzügliche Bemerkungen oder als unangenehm empfundene Körperberührungen können lange nachwirken. Besonders schlimm ist es, wenn Kinder oder Jugendliche betroffen sind. Noch mehr Empörung kommt auf, wenn sie zu Opfern ihrer eigenen Eltern, Erzieher oder Betreuer werden — also derer, die eine Verantwortung für das Wohl der jungen Menschen haben.

Verstärkt ab dem Jahr 2010 wurden immer wieder Fälle von sexuellem Missbrauch in kirchlichen, nicht zuletzt katholischen Einrichtungen, öffentlich. Deshalb gab die Deutsche Bischofskonferenz die MHG-Studie in Auftrag.

Opfer waren zwischen vier und 20 Jahre alt

Diese sollte die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Diözesanpriester, Diakone und Ordenspriester zwischen 1946 und 2014 feststellen und ergründen, welche innerkirchlichen Strukturen diese Vorfälle begünstigt haben könnten. MHG steht für Mannheim-Heidelberg-Gießen — aus diesen drei Städten kommen die Wissenschaftler, die an dem Forschungsprojekt mitarbeiteten. Im September 2018 wurde die 300 Seiten lange Studie veröffentlicht.

Für das Erzbistum Bamberg listet sie für den genannten Zeitraum 88 mutmaßliche Opfer auf, die zum Zeitpunkt der Vorfälle zwischen vier und 20 Jahre alt waren. 56 sind männlich, 32 weiblich. 1711 Personalakten von Mitarbeitern der Erzdiözese wurden untersucht, in 41 davon fand man Hinweise auf Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauch. Wie viele Täter und Opfer aus dem Landkreis Forchheim kommen, ist nicht bekannt.

Zehn Betroffene in Beratung

Generalvikar Georg Kestel bezeichnete das Ergebnis als „erschütternd“ und betonte: "Das Mitgefühl gilt allen Opfern aus der Vergangenheit und Gegenwart." Die Kirche müsse auf verschiedenen Handlungsebenen Maßnahmen ergreifen, um solches Leid in Zukunft zu verhindern.

Und das Erzbistum ist aktiv geworden. Betroffene aus der Diözese können sich bei Eva Hastenteufel-Knörr kostenlos beraten lassen. Die Bamberger Rechtsanwältin und Missbrauchsbeauftragte des Erzbistums steht derzeit mit etwa zehn Personen in Kontakt, die angeben, von sexuellen Übergriffen durch Diözesanmitarbeiter betroffen gewesen zu sein. Teilweise gehe es um Nähe-Distanz-Probleme, die für Betroffene unangenehm, aber nicht strafbar seien. Einige berichteten ihr von sexuellen Berührungen, in einem Fall steht der Vorwurf der Vergewaltigung im Raum. "Es sind überwiegend Altfälle", sagt die Rechtsanwältin. Viele Berichte stammten aus den 60er bis 80er Jahren. "Aber trotzdem haben die Betroffenen teils bis heute noch Beeinträchtigungen." Dazu zählten etwa Alpträume und Eheprobleme.

Nach der Veröffentlichung der Studie seien bei manchen Betroffenen wieder schlimme Erinnerungen hochgekommen, die sie längst in irgendwelchen "Schubladen" vergraben hatten. Auch die Tatsache, dass es nun einen festen Ansprechpartner gibt, habe manche zum Reden gebracht, ist Hastenteufel-Knörr sicher. Wenn die mutmaßlichen Opfer einen Täter benennen, gibt die Anwältin die Informationen an die Bistumsleitung weiter. Diese informiert in konkreten Verdachtsfällen die Staatsanwaltschaft.

Längere Fristen

Manchmal scheidet eine Strafverfolgung aus — wegen Verjährung oder weil die Tatverdächtigen schon verstorben sind. "Bei verjährten Taten erstatten wir trotzdem Anzeige", sagt Hastenteufel-Knörr. "Unter Umständen können sie kirchenrechtlich noch geahndet werden." Außerdem können Sexualdelikte gegen Minderjährige aufgrund einer Gesetzesänderung länger verfolgt werden als früher: Die Verjährungsfrist ruht, bis der Betroffene das 30. Lebensjahr vollendet hat, und beträgt dann je nach Schwere des Falls bis zu 20 Jahre.

© Philipp Demling

Der Täter kann so strafrechtlich belangt werden, bis sein Opfer 50 Jahre alt ist. "Das schafft mehr Gerechtigkeit", sagt die Anwältin. "Auch wenn man in solchen Fällen natürlich vor großen Beweisproblemen steht." Hastenteufel-Knörr hilft Betroffenen auch, einen Antrag auf Leistungen zur Anerkennung ihres Leids zu stellen. Das Bistum zahlt Opfern in der Regel 1000 bis 5000 Euro. Auch Therapiekosten können übernommen werden.

Wie versucht das Bistum, solchen Vorfällen in Zukunft vorzubeugen? "Jede Einrichtung — jede Pfarrei, jede Kita, jede Schule – soll ein Integriertes Schutzkonzept entwickeln", sagt Monika Rudolf, Präventionsbeauftragte des Erzbistums. Der Bischberger Kindergarten, der in die Schlagzeilen geriet, weil sich dort ein Azubi an zahlreichen Kindern vergriff, hatte ein solches Konzept (noch) nicht. In verpflichtenden Schulungen werden alle Bistumsmitarbeiter für das Thema sexuelle Gewalt sensibilisiert. Es geht etwa um die Grenze zwischen Freundlichkeit und Übergriffigkeit, um Täterstrategien und frühzeitiges Eingreifen. Pädagogen, Theologen und pastorale Mitarbeiter, die intensiven Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen haben, müssen zwölf Stunden absolvieren. Wer weniger mit Minderjährigen zu tun hat, muss sechs oder drei Stunden lang teilnehmen.

Leitlinien werden überarbeitet

Laut Rudolf haben gegenwärtig etwas mehr als die Hälfte der 3000 Mitarbeiter der 270 Bistumseinrichtungen die Schulung hinter sich. "Bis 2020 wollen wir mit dem jetzigen Personal durch sein", sagt die Sozialpädagogin. Es wird regelmäßige Auffrischungen geben.

Auch werden die Leitlinien des Bistums zur Missbrauchsprävention derzeit überarbeitet. Bis Sommer 2019 sollen sie auf dem neuen Stand sein und auch erwachsene Schutzbedürftige, also pflegebedürftige Senioren, Kranke und Behinderte, berücksichtigen. Denn auch diese haben ein erhöhtes Risiko, Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Rudolf betont: "Prävention ist ein dauerhafter Prozess."

Bei Verdachtsfällen oder Fragen zum Thema kann man sich an Rechtsanwältin Eva Hastenteufel-Knörr, per Telefon (0951) 40735525, E-Mail kanzlei-hastenteufel@t-online.de, oder an die Präventionsbeauftragte Monika Rudolf, Telefon (0951) 5021640, E-Mail monika-rudolf@erzbistum-bamberg.de, wenden. Auf der Internetseite der Deutschen Bischofskonferenz unter www.dbk.de findet man die MHG-Studie im Wortlaut sowie weitere Informationen zu Präventionsmaßnahmen der Kirche gegen sexuelle Gewalt.