Die Laubhütte: Eine gute Stube für die Familie

1.10.2009, 00:00 Uhr
Die Laubhütte: Eine gute Stube für die Familie

© Alexander Brock

Rabbiner Shlomo Wurmser zieht kräftig an einem Seil und hakt es an einem Wandhaken ein. Dann hängt er sein Gewicht an ein zweites Seil, zieht und befestigt es ebenso – wie ein Matrose auf einem Segelschiff.

Über seinem Kopf stehen nun zwei von fünf Dachsegmenten sperrangelweit offen, ragen senkrecht in den blauen Himmel. Die Zwischendecke, die einst aus Zweigen luftig geflochten wurde, zerfasert den Sonneneinfall in schlanke Strahlen. Die Decke unterteilt sich in Kassetten, in deren Rahmen Zweigmatten eingefasst sind. «Darüber liegt der Dachboden mit den Luken, die ich von hier aus alle über Seilzüge öffnen kann«, sagt der 25-jährige Rabbi.

Blick auf Dächerlandschaft

Dann geht Wurmser ins Treppenhaus, steigt die Stufen eine Etage höher und öffnet die Türe zum darüber liegenden Dachboden mit den mächtigen Holzklappen. Die beiden offen stehenden Dachsegmente geben den Blick auf die Dächerlandschaft von Fürth frei.

Diese Variante einer «Sukka« ist etwas Besonderes. Wenn vom 3. bis 11. Oktober das Laubhüttenfest gefeiert wird, bauen die Menschen ihre Hütten meist in Hinterhöfen auf, in Israel sogar auf den Straßen. In Fürth kamen die Provisorien früher auch auf Flachdächern zur Geltung. Die Experten vermuten, dass hier die erste Sukka anno 1528 aufgebaut wurde. Zu dieser Zeit haben die Juden das Niederlassungsrecht in Fürth erhalten, während sie in Nürnberg noch ausgegrenzt waren.

Erstes jüdisches Waisenhaus Deutschlands

Warum sich auf dem Dachboden in der Fürther Hallemannstraße allerdings einst ein solcher Mechanismus durchgesetzt hat, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Klar ist: Das 1868 erbaute, vierstöckige Gebäude war das Zuhause für viele elternlose, jüdische Kinder – das erste jüdische Waisenhaus in Deutschland. Und für den Nachwuchs war auch die Sukka mit den Dachklappen bestimmt.

Heute leben hier in den Wohnungen Gemeindemitglieder, das Dach mit seiner einmaligen Funktion blieb jahrzehntelang unbeachtet. Bis ins Jahr 2007. Da ließ die damalige Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in Fürth, Gisela Naomi Blume, den Mechanismus reparieren. «Mir ist diese Form bisher kein zweites Mal begegnet«, sagt Blume.

Der Auszug aus Ägypten

Während des Laubhüttenfestes ab dem kommenden Samstag gedenken die Menschen in der Diaspora acht Tage lang (sieben Tage in Israel) des Auszugs aus Ägypten und der anschließend 40 Jahre dauernden Wanderung des jüdischen Volkes durch die Wüste. Doch sind es fröhliche jüdische Feiertage, die mit dem Auszug auch Erntedank verbinden. Die Hütte gilt für diese Zeit «als gute Stube für die ganze Familie«.

Die Leute wohnen und teils übernachten sie dort auch. «Das Provisorium wird mit Zweigen und Teppichen geschmückt. Für die Mahlzeiten holen die Feiernden sogar ihr bestes Geschirr heraus«, erklärt Blume.

Kein Verlass auf Materielles

Mit dem Bezug zum biblischen Exodus soll das Bauen der Laubhütte überdies daran erinnern, dass die Menschen sich auf Materielles wenig verlassen können, weil es jederzeit verloren gehen kann. Eine Hütte muss mindestens drei Wände haben, es können vorhandene Mauern genutzt werden. Das Dach muss aus natürlichem Material bestehen, aus Holz, Buschwerk oder – wie die Zwischendecke der Sukka in der Hallemannstraße – aus geflochtenen Zweigen.

In jedem Fall muss der Himmel durch die Decke zu sehen sein. «Der Brauch wäre nicht koscher, wenn die Sonne und die Sterne nicht direkt über den Köpfen strahlen. «Zweige und Äste müssen abgeschnitten sein«, so Blume. Werden Hütten in Höfen oder auf Balkonen gebaut, dürfe auch kein Dachvorsprung darüber sein.

Im Handumdrehen verschlossen

Regnet es in das offene Dach der Sukka im Fürther Gemeindehaus, lassen sich die Luken in Handumdrehen verschließen. Dennoch feiert Rabbiner Wurmser mit seiner Gemeinde (insgesamt rund 300 Mitglieder) in einem Hinterhof der Gemeinde. «Viele sind alt und gebrechlich, die vielen Stufen zur Sukka unter dem Dach hinauf sind zu anstrengend.«

Auf die Frage, ob die Sukka unter dem Dach gar nicht mehr genutzt wird, lächelt der 25-jährige Rabbiner. «Doch«, sagt er, «sie wird genutzt. Ich selbst wohne, koche und übernachte hier mit meiner Frau acht Tage lang – und das mittlerweile schon zum dritten Mal.«