Die verlorene Heimat

17.7.2013, 13:00 Uhr
Die verlorene Heimat

© Michael Müller

Nie wieder, hatte sich Frank Harris geschworen, nie wieder wollte er nach Fürth zurückkehren. Den Menschen, die Millionen Juden vergast, die das Morden geduldet und die weggesehen haben, diesen Menschen wollte er nie wieder begegnen. Tief saß der Zorn in seiner Brust. Sein Herz war voller Hass.

Die verlorene Heimat

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Jetzt sitzt Frank Harris mitten in Fürth, auf einem roten Sofa im Hotelzimmer und lacht. Harris ist klein, vielleicht einen Meter sechzig, sein Rücken ist gebeugt, sein Gang dennoch aufrecht. Er lacht über eine Geschichte, die er gerne erzählt: Seine Schwester ist im Januar 1922 auf die Welt gekommen, er selbst noch im Dezember desselben Jahres. Als seine Mutter dem Vater beibringen musste, dass sie schon wieder schwanger war, entfuhr diesem: „So ein Blödsinn! Da denken die Leut’, ich hab’ nichts Besseres zu tun!“

Wenn der 91-Jährige diese Anekdote erzählt, dann spricht er Fränkisch, den alten Dialekt seiner Jugend. Eine ganz ähnliche Mundart spricht Willie Glaser, der neben ihm auf dem Sofa Platz genommen hat. Sie waren zusammen in der Schule, damals in Fürth, Glaser zwei Klassen über Harris.

Jetzt, nach all dieser Zeit, wieder hier zu sein, das ist „merkwürdig“, erzählt Harris. Einerseits sind da die schönen Erinnerungen an die Kindheit: das Spielen mit seiner Schwester, das Zuhause in der Nürnberger Straße 108, später in der 84. Andererseits die hässlichen Erinnerungen. An die Schreckensnacht etwa.

Am 10. November 1938 war es, als Schreie und Hämmern an der Tür die Familie Harris um drei Uhr morgens aus dem Schlaf rissen. In dieser Nacht, der Reichspogromnacht, wurden Hunderte Juden ermordet, Tausende inhaftiert oder in Konzentrationslager verschleppt, Synagogen angezündet, Wohnungen und Geschäfte verwüstet und zertrümmert.

Es waren nicht irgendwelche fremden Nazis, die die Familie von Frank Harris schikanierten und seinen Vater nach Dachau fortschafften. Es war der Feinkosthändler von nebenan und es war der Kamerad seines Vaters, an dessen Seite dieser im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte. Das hat den 16-jährigen Harris tief getroffen, den ersten Hass in seinem Herzen gesät. Um den Vater aus dem KZ auszulösen, ließ sich die Mutter damals auf ein perfides Angebot ein. Für 20 Reichsmark gab sie das Geschäft und das Auto her — um den Gatten vor dem sicheren Tod zu bewahren.

Dunkler Schatten

Was vorher wichtig, ein Lebenswerk war — der Spielzeugladen — war plötzlich bedeutungslos geworden. Das Einzige, was zählte: das Leben. Sein Vater kehrte tatsächlich aus dem KZ Dachau zurück. Als gebrochener Mann. Nie wieder wurde er der Mann, der er vorher gewesen ist. Kurz nach Kriegsende starb er.

Längst ist das Lachen aus Frank Harris’ Gesicht verschwunden, Schmerz hat sich stattdessen wie ein dunkler Schatten ausgebreitet. Noch heute flackert der Zorn in seinen Augen, beginnt die Stimme zu beben, wenn er Sätze sagt wie diese: „Ich habe es gehasst, wenn die Menschen sagten: Wir haben doch nur Befehle ausgeführt. Das haben sie nicht. Sie sind verantwortlich für das, was sie getan haben. Es begeht doch keine abstrakte Nation einen Völkermord, sondern das sind Menschen, die morden.“

Die Schrecken des Dritten Reichs wirken auch in Willie Glasers Leben nach — Tag für Tag. Die Nazis haben ihn zum Waisen gemacht: Seine Eltern, seine Schwestern, seinen Bruder — fast die gesamte Familie haben die Nazis ausgerottet. In Gaskammern umgebracht.

Mit 17 Jahren ist Glaser aus Deutschland geflohen, alleine. Seine jüngere Schwester war ein Jahr zuvor nach Irland entkommen. Der Tag, als Glaser seine Heimat verlassen hat, war der letzte, an dem er seine Eltern gesehen hat. Nie wieder hat er danach von seiner Familie gehört. Die Unruhe, nicht zu wissen, was passiert ist, hat ihn immer wieder nach Deutschland getrieben. Bis seine Recherchen die düsteren Ahnungen bestätigt haben.

Was ihm bleibt, sind Erinnerungen. Erinnerungen an die Zeit vor Hitler. „Das Jahr, als ich fünf Jahre alt war, war vielleicht das schönste in meinem Leben“, sagt er heute. Damals, als er mit seiner Familie in der Blumenstraße 41 lebte. Dort, wo heute Gäste im Altstadthotel übernachten, stand einst die Möbelfabrik Ludwig, dahinter ein Pferdestall. Hier spielte Glaser als Bub mit seinen Freunden. An manchen Tagen durfte er die Pferde striegeln und auf die Kutsche klettern. Wertvolle Erinnerungen an eine Zeit, als die Nazis seine Unbeschwertheit noch nicht vergällt und seine Familie noch nicht ausgelöscht hatten.

Eine Biografie von Frank Harris und Texte von Willie Glaser sind im Internet unter der Adresse http://rijo-research.de zu finden.

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