Echte Trachtler kennen keinen Kälteschmerz

11.11.2016, 11:00 Uhr
Echte Trachtler kennen keinen Kälteschmerz

© Foto: Ulrich Schuster

Äh, wie bitte? „Kenn’ ich nicht, wir haben nur Schrippen“, das war die Antwort der Verkäuferin in der Stadelner Bäckereifiliale. Und das war auch der Moment, als die Kundin wieder ging, ohne Kipfli, aber mit verdammt dickem Hals. Ingrid Lamatsch hätte gern vier Kipfli bekommen.

„Ich kann kein Hochdeutsch“, bekennt die temperamentvolle, herzhaft lachende Jubilarin, taufrische 60 ist sie Anfang Oktober geworden, und nun wird sie auch noch Kulturpreisträgerin. Eine, die fädderisch redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Vater Ronhofer, Mutter aus Stadeln. „Wenn ich in Fürth bin“, sagt Ingrid Lamatsch, eine Stadelner Hausgeburt, „sage ich immer, ich bin Stadelnerin. Erst außerhalb von Fürth bin ich Fürtherin.“ Muss so viel Liebe zur Heimatscholle nicht früher oder später in den Armen eines Heimat- und Trachtenvereins enden? Antwort: nicht später, sondern früh; sehr früh schon hatte Lamatsch ihre Lebensleidenschaft entdeckt. Ingrid ist zehn, als sie 1966 zur Verwunderung der Eltern im frisch gegründeten Heimat- und Trachtenverein Stadeln mitläuft. Erntedankfestzug, wunderbar. „Egal wie schlecht es mir ging, ich war jedes Jahr dabei, habe keinen einzigen Zug verpasst.“ In Schneestürmen ist sie gelaufen, in glühender Spätsommersonne. Alles erlebt, alles genossen.

Ingrid Lamatsch ist Käpt’n auf einem sinkenden Schiff. Der Sonderpreis Kultur, sagt sie, sei deshalb „eigentlich keine Ehrung für mich, sondern für alle Trachtler in Franken“. Derer gibt es nicht mehr viele. In Nordbayern haben in den vergangenen Jahren zehn Vereine die Segel gestrichen. Mittelfranken hat noch 29 Trachtengruppen, Lebenszeichen senden aktuell nicht mehr als sechs.

Dass die Stadelner zu den Lebendigen zählen, ist, da übertreibt man kaum, Lamatschs Verdienst. Seit 25 Jahren hält sie als Chefin den Laden zusammen, 60 Mitglieder, davon etwa 30 Aktive und acht Tanzpaare, die am Sonntag im Kulturforum zeigen werden, was sie drauf haben. Acht ist die Jüngste, 87 die Älteste. „Ich bin ein Diktator“, gesteht Lamatsch. „Alles andere funktioniert in einem Verein einfach nicht.“ Unter ihren Fittichen ist jeden Freitag Probe im Sitzungssaal des alten Rathauses am Festplatz. „Da kommen locker mal so 30 Tänze an einem Abend zusammen.“ Wer sich wie und wo dreht: Lamatsch recherchiert unermüdlich im Internet, findet Neues, auch und vor allem von weit jenseits fränkischer Tanzgrenzen. „So wie alle Menschen vielfältig sind, will ich Vielfalt im Vereinsleben.“

Niemals Bergstiefel zum Rock

Dieses schöne Leben hat vier Jahres-Höhepunkte: Osterbrunnenschmücken in Stadeln, Stadelner Kärwa, Fürths Erntedankfestzug und Kärwa-Eröffnungstanz. Kurze Frage zwischendurch: Dirndl und Kärwa, geht das? Lamatsch atmet tief durch, gleich glimmt die zweite Interview-Zigarette: „Sagen wir mal so: Lieber ein Dirndl als eine Jeans mit 27 Löchern. Bloß wenn die Madli wenigstens lernen würden, dass man zu einem feinen Rock keine Stiefel trägt, mit denen man auf Berge klettert. “ Bei „Wetten, dass. . ?“ hätte sie mit besten Erfolgschancen 100 Trachten nur durch Betasten erkennen können, grandios bebilderte Bücher liegen in ihrem Stadelner Haus, von wo aus sie mit ihrem dritten Ehemann Jörg eine Hausverwaltung — 53 Einheiten, 1000 Wohnungen — managt.

Die Stadelner Tracht aus den Händen der, versteht sich, Stadelner Schneiderin Betty Basel heißt „Erneuerte Knoblauchsländer Arbeitstracht“, ist schlichteren Zuschnitts („Die reicheren Gegenden erkennen Sie an der Anzahl der Unterröcke“) und wurde vor 50 Jahren nach einer Gemälde-Vorlage des Malers Rudolf Schiestl zu textilem Leben erweckt — rosa Schürze, rosa Kopftuch, weiße Bluse für die Dame, der Herr trägt rote Weste, Kniebundhose, schwarze Schuhe, runden Hut. Am Sonntag werden Schürzen und Blusen übrigens schwarz sein, es ist Volkstrauertag.

Es ist wenige Tage nach dem Attentat auf das israelische Team. Olympia-Abschlussfeier in München, Lamatsch und ihr Bruder sind dabei, so lang schon hatten sie sich auf den großen Auftritt im Stadion gefreut. „Doch es war so traurig. Uns hat der Herr Fuchsberger ermahnt, ernste Gesichter zu machen.“ Ein unvergessliches Erlebnis ist es gleichwohl geblieben, wie auch der Moment, als sie in München beim Festprogramm eines Polit-Gipfels tanzend vor einem wuchtigen Herrn zu stehen kommt. „Ja Mädchen, wo kommen wir denn her?“, dröhnt der. „Jetzt wäschst du dir nie wieder die Hände“, feixen Freunde nach dieser Begegnung mit Helmut Kohl. „Doch“, gibt Ingrid Lamatsch zurück, „bei Schwarzen schon.“

Marx-Lektüre

Sekretärin der Gewerkschaft Leder in Nürnberg war die studierte Arbeitsrechtlerin („Ich hab’ ,Das Kapital’ gelesen, die ersten 27 Seiten sind schwierig“), Betriebsratschefin bei Puma in Bad Windsheim — und irgendwann arbeitslos. Das Leben kegelt sie raus aus Stadeln, wohin sie 2000 nach vielen Jahren und zwei gescheiterten Ehen zurückkehrt. Als Einräumdienst bei Obi in Neustadt/Aisch beginnt sie ganz neu und von ganz unten. Und wird Chefin.

„Ich werde mich zurücknehmen müssen“, das weiß Lamatsch schon jetzt. 2017 will sie den Vorstandsposten im Verein abgeben, „es wird Zeit, dass andere Gedanken drankommen.“ Einen großen, ganz großen Wunsch hat sie aber noch. Einer wurde 2003 wahr, als der BR erstmals den Erntedankfestzug live übertrug. Lamatsch hatte 10 000 Unterschriften gesammelt und steht seitdem im Ruf, die Königin der Kirchweihen mit dem Sender vermählt zu haben. „Na ja, man muss zugeben, dass der Plan schon beim BR in der Schublade lag.“ Von Zeit zu Zeit bereut sie den Popularitätsschub für den Zug. Für gewisse Showeinlagen mussten, sagt sie, andere Vereine weichen. Einlagen, die mit der Traditionen des Festes nichts zu tun haben. „Oder wissen Sie, was ein Heißmann auf einem Elefanten reitend beim Erntedankfestzug verloren hat?“

Der ganz große Wunsch aber lautet: „Wenn ich einmal den Zug kommentieren dürfte. Oder mal mitreden dürfte, wie man den Zug dramaturgisch ordentlich aufstellt. Da täte ich sogar aufs Mitlaufen verzichten.“ Sonst aber, und sie sagt das ganz ironiefrei, sonst „ist nichts mehr offen in meinem Leben“.

Die Stadelner Bäckereifiliale. Seit kurzem steht auf dem „Schrippen“Schild etwas kleiner zwar, aber immerhin dies: „Kipfli“.

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