Ein schnell vergessener Sohn der Stadt

14.3.2014, 16:00 Uhr
Ein schnell vergessener Sohn der Stadt

Den Zwicker auf der Nasenwurzel, ein buschiger und gezwirbelter Schnurrbart, der ganz den Mund versteckt, volles Haar, ein Blick zwischen gütig und verschmitzt, zwischen wachsamem Lauern und gespielter Unaufmerksamkeit: Von Max Bernstein existieren nur ein paar flüchtig hingeworfene Zeichnungen. Vielleicht sind sie während verschiedener Prozesse in Gerichtssälen angefertigt worden, in denen der Rechtsanwalt den Großteil seines Lebens zubrachte — wenn er nicht gerade im Theater saß.

Aber selbst in den Justizpalästen, mitten unter Richtern und Angeklagten, Zeugen und Anklägern, in den Dramen, die zur Abwechslung nicht er, sondern das Schicksal selber schrieb, muss Bernstein sich gefühlt haben wie auf, vor oder hinter der Bühne. So richtig trennen ließen sich die beiden Schauplätze für den Advokaten, Kritiker und Dramatiker in Personalunion offenbar ohnehin nie.

Als dieser Max Bernstein am 26. Mai 1924 siebzig Jahre alt wurde, erhielt er Post aus Fürth. Der Brief des damaligen Oberbürgermeisters war an seine Münchner Adresse gerichtet. Die hochoffiziellen Zeilen müssen ihn gefreut haben, denn in seiner Dankesantwort heißt es ein wenig entschuldigend, überrascht und gerührt: „...gestatten Sie mir, dafür meinen herzlichen, herzlichsten Dank auszusprechen. Mit diesem Dank verbinden sich innige Wünsche für eine glückliche Zukunft meiner lieben, nie vergessenen Vaterstadt.“

„Liebe, nie vergessene Vaterstadt“ — wenn man das vergilbte Blatt Papier mit diesem Text in den Händen hält, dann hat man heute wahrscheinlich das einzige Dokument, aus dem sich noch eine halbwegs lebendige Beziehung zwischen Bernstein und Fürth herauslesen lässt. Selbst in der zweibändigen Biographie, die der Germanist Jürgen Joachimsthaler 1995 an der Uni Regensburg vorlegte, nimmt die Fürther Zeit Familie Bernsteins nur verschwindend geringen Raum ein.

Die Wurzeln sind gekappt, die Spuren verwischt: Man muss davon ausgehen, dass der gesamte persönliche Nachlass des Anwalts und Schriftstellers, in dem sich möglicherweise auch Bemerkungen, Briefe und autobiografische Aufzeichnungen die Fürther Zeit betreffend befunden haben, von den Nationalsozialisten vernichtet wurde.

Der Mann, obwohl er doch acht Jahre vor der Machtergreifung starb, war ihnen auch noch nach seinem Tod zu gefährlich, seine persönlichen und juristischen Notizen und Korrespondenzen waren „verdächtig“: Es hätte sich leicht um brisantes Wissen über Machenschaften und Verbindungen gehandelt haben können.

Joachimsthaler verdeutlicht die Situation anhand eines Beispiels, das viel über den politischen und gesellschaftlichen Wirkungskreis und die Bedeutung Max Bernsteins aussagt: „Die Konfiszierung und wohl auch gezielte Vernichtung des Nachlasses durch die Nationalsozialisten hängt sicherlich auch mit seinem letzten großen Prozess zusammen, der 1922 vor dem rechtlich problematischen Münchner Volksgerichtshof unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurde und über den nicht berichtet werden durfte (...): Bernstein, schon ziemlich alt, war noch einmal Verteidiger in diesem sogenannten Fechenbachprozess, in dem es angeblich um den Verrat von Staatsgeheimnissen, faktisch aber um Journalisten ging, die über rechtsradikale Gruppierungen (u.a. die NSDAP) recherchiert hatten und auf Umsturzpläne der Nazis und auf ihre (nie ausgeführten) Pläne zur Ermordung des Reichspräsidenten gestoßen waren.

Die Journalisten wurden wegen staatsgefährdenden Geheimnisverrats zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Bei Bernsteins (damals sehr bekannter und gefürchteter) Arbeitsweise konnte man annehmen, dass er weiteres belastendes Material gegen die NSDAP gesammelt hatte — es war also im eigensten Interesse der NSDAP, den Nachlass verschwinden zu lassen. Damit dürfte eine der wertvollsten Quellensammlungen zu Geschichte und kulturellem Leben des Kaiserreichs verloren gegangen sein, das ,Vergessen‘ Bernsteins ist jedenfalls kein zufälliges.“

Und so „vergaß“ auch über die braunen Jahre hinweg die Stadt Fürth ihren „Sohn“, und sie erinnerte sich auch in besseren Jahren nicht mehr an ihn; die Glückwünsche von 1924 (und ein paar Nachrufe anlässlich des Todes ein Jahr später in den örtlichen Zeitungen) sind bis heute das letzte Bemühen geblieben, nochmals eine Beziehung zwischen den beiden „Beteiligten“ herzustellen. Die Nazis haben in der Tat gründliche Vergessensarbeit geleistet, über den Tod Bernsteins hinaus. Als dessen Witwe Elsa, eine der schillerndsten deutsch-jüdischen intellektuellen Persönlichkeiten vor 1933, vier Jahre nachdem man sie mit anderen Häftlingen aus dem Konzentrationslager Theresienstadt befreit hatte, 1949 starb, wurde das in Fürth auch nicht weiter registriert.

Verbürgt ist, dass Maximilian Ernst Bernstein am 12. Mai 1854 in Fürth geboren wurde, als Sohn des Großhändlers („für Garn und f. g. lange englische Manufakturwaren“) Simon und seiner Frau Mathilde Bernstein. Die jüdische Familie gehörte zum gehobenen Bürgertum der Stadt, der Sohn besuchte zunächst die Lateinschule in Fürth, dann Gymnasien in Nürnberg und Frankfurt; Rechtswissenschaften studierte er unter anderem in München, wo er seit 1877 lebte und wo er seit 1881 als selbstständiger Rechtsanwalt tätig war.

Gefürchteter Kritiker

Dort hat er sich nicht nur auf Fälle, sondern auch in das Theaterleben gestürzt und stieg in kürzester Zeit zu einem der angesehensten und gefürchtetsten Kritiker bei den „Münchner Neuesten Nachrichten“ auf. 16 Jahre lang schrieb er in sogenannten „Theaterbriefen“ über die Premieren des Hofschauspiels: Kein Sprechfehler entging ihm, keine inszenatorische Plattitüde blieb unerwähnt, keine modernistische Albernheit fand Gnade vor den Augen Bernsteins, dem durchaus ein eher solider und unbeirrter „konservativer Geschmack“ zu Eigen war.

Darüberhinaus galt sein Kampf den immer unerträglicher werdenden Auswüchsen der Zensur, Als begnadeter Redner sezierte er die Schnüffel-Mechanismen des Staates, als geschickt taktierender Anwalt verteidigte er in aufsehenerregenden und sehr publikumswirksamen Prozessen Schriftsteller und Künstler, die mit Kaiser und Gesetz in Konflikt geraten waren.

In den „Unpolitischen Erinnerungen“ des Dichters Erich Mühsam, der auch Mandant Bernsteins war, findet sich folgende Passage: „Dort hörte ich auch zuerst den famosen Justizrat Max Bernstein seine Anekdoten aus langer Verteidigungspraxis erzählen. Dann musste ich ihn 1910 in meinem Geheimbundprozess selbst als Verteidiger in Anspruch nehmen. Als er den Tatbestand ausgiebig geprüft hatte, meinte er: ,Ja, schaun S’, Herr Mühsam, in der Sach’ gibt’s nur zweierlei, Freispruch oder Höchststraf’. ,Dann wollen wir doch lieber auf den Freispruch heraus,’ antwortete ich. Bernstein schmunzelte: ,Ich denk halt auch’, und nach fünftägiger fabelhafter Arbeit meines Verteidigers vor Gericht wurde ich dann eben freigesprochen.“

Ach ja, Dichter war Bernstein, der 1925 starb, ja auch noch. Am 12. Dezember 1886 wurden „bei vollem Hause“, wie der Centralanzeiger damals berichtete, im alten Fürther Stadttheater (das sich noch in der Theaterstraße befand) Max Bernsteins Einakter „Ein Kuß“, „Mein neuer Hut“ und „Blaubart“ aufgeführt: „Heute galts der Ehrung eines Fürther Kindes: des Rechtsanwaltes und Schriftstellers Max Bernstein in München, dessen geistreiche drei Einakter (...) den Zuschauerraum wirklich einmal zu füllen vermochten, denn Sperrsitz z.B. war völlig ausverkauft.“

Am Tag zuvor hatte die Aufführung der drei kleinen Stücke bereits in Nürnberg in Anwesenheit Bernsteins stattgefunden. Die Fürther Volkszeitung merkte deshalb in ihrer Ankündigung fast drohend an: „Ob der Herr Autor auch der hiesigen Vorstellung anwohnt, wissen wir nicht; wollen es aber hoffen.“

Zwei Tage später jedoch berichteten die Fürther Neuesten Nachrichten spürbar pikiert: „Dass der Beifall unter Betonung des heimatlichen Wohlgefallens an den Leistungen eines Fürthers ein außerordentlicher war, bedarf keiner Versicherung. Bedauert wurde jedoch, dass der Autor nicht auch der Aufführung hier — wie in Nürnberg — beiwohnen konnte.“

„Der Vorhang fällt rasch“, heißt die Regieanweisung am Ende des Einakters „Mein neuer Hut“. Das passt eigentlich auch vortrefflich als Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem „Fürther Kind“ Max Bernstein und seiner „lieben, nie vergessenen Vaterstadt“.

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