Träume

8.7.2014, 09:28 Uhr
Der Nürnberger Autor Leonhard F. Seidl.

© Katrin Heim Der Nürnberger Autor Leonhard F. Seidl.

„Für mich ist es eine Schande, wenn ich Geld erhalte, ohne dafür zu arbeiten“, sagt Jonas und verschränkt seine kräftigen Arme. Ich bin nicht seiner Meinung, aber sehr daran interessiert, was er mir zu sagen hat.

„Vier Jahre war ich Besitzer eines Supermarktes, habe täglich zehn oder noch mehr Stunden gearbeitet. Bis zu den Wahlen“. Eine Gruppe GIs schlendert vorbei, alle denselben Haarschnitt, schauen neugierig, die Hitze flimmert über den Asphalt. „Mein Leben hat keinen Sinn, wenn ich nicht arbeite. Ich würde jede Arbeit annehmen. Junge Menschen wollen lernen, sie sind nicht dafür geboren, nur rumzusitzen. Das demoralisiert.“

„Liest du gerne?“, frage ich. Er nimmt einen Schluck Wasser aus dem Plastikbecher. Seine Augen sind kleiner als gestern, rote Äderchen bilden ein Netz, das sich jetzt öffnet, aus dem sich Begeisterung befreit. „Am liebsten Gedichte. In einem Gedicht von wenigen Zeilen stehen oft ganze Dramen.“ Seine Arme lösen sich von der Brust, ein Lächeln spielt sich auf seinen Lippen. „Wenn ich Gedichte lese, ist mein Geist frei und ich bin zufrieden.“ „Sie sind geistige Nahrung“, sage ich und bemerke zu spät, was ich gerade gesagt habe.

„Hast du einen Lieblingsschriftsteller?“, versuche ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Tsegaye Gabre-Medhin. Er schrieb ein Drama über den äthiopischen Bischof Abuna Petros, der gegen die italienischen Faschisten predigte und deswegen hingerichtet wurde.“ Vater, Mutter, Kind schleichen genau in dieser Reihenfolge an uns vorbei. „Wünscht du dir einmal Kinder zu haben?“ „Wenn ich die Erlaubnis bekomme, möchte ich heiraten. Es ist mein Traum.“

Wieder reißt Jonas die Augen auf und lächelt, als würde er in ein anderes Leben blicken. Mir fällt ein, dass ich bald los muss, zum Geburtstag meines Schwiegervaters. Ich freue mich darauf, ihn und die übrigen Verwandten zu sehen. „Und deine Familie?“ „Meine Mutter ist noch dort.“ Wie mein Schwiegervater hat auch meine Mama heute Geburtstag. Am Morgen haben wir telefoniert. „Nach den Wahlen wurde sie von der Geheimpolizei eingesperrt“, fährt Jonas fort, „und verhört.“

Später sitze ich auf der Terrasse meines Schwiegervaters und trinke Kaffee. Jonas Heimat Äthiopien gilt als die Wiege des Kaffees und als autoritäres Regime, in dem politische Häftlinge misshandelt werden. Hätte sich Jonas nicht politisch engagiert, könnte er jetzt bei seiner Mutter sitzen und Kaffee trinken.

Aber er und die anderen Flüchtlinge am Nürnberger Hallplatz trinken nur Wasser, sie befinden sich seit Tagen im Hungerstreik. Seit heute nehmen sie auch keine Flüssigkeit mehr zu sich. „Challenge gives power“, hat Jonas noch zu mir gesagt. Als ich nachts nicht schlafen kann, sehe ich im Wörterbuch nach, weil ich unsicher bin, was „Challenge“ bedeutet. Es steht für „Herausforderung“.

Keine Kommentare