Verwaltung behindert Inklusion

Fürther Schüler hat zerbrechliche Knochen - seine Mutter kämpft mit den Behörden

14.11.2021, 05:55 Uhr
Fürther Schüler hat zerbrechliche Knochen - seine Mutter kämpft mit den Behörden

© imago images

Benjamin liebt Sport. Er würde gerne auf einem Trampolin springen. Doch mehr als Schwimmen, Radfahren und Bogenschießen ist nicht drin. Denn er könnte sich schwer verletzen, wenn er nur stolpert.

Benjamin ist mit Glasknochen zur Welt gekommen. Dass seine Knochen bei der geringsten Erschütterung brechen können, sieht man dem fröhlichen Jungen nicht an - und doch leidet er unter dieser unheilbaren Krankheit.

Im November wird er 13 Jahre alt, wahrscheinlich verletzte er sich bereits bei seiner Geburt zig Knochen, glaubt seine Mutter. Als Benjamin (aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nennen wir die vollständigen Namen nicht) im Alter von sieben Monaten aus seinem Bettchen fiel, brach er sich den linken Oberschenkelknochen. Es war die erste Fraktur, die die Familie bemerkte. Erst als er vier Jahre alt war, zeigte ein Röntgenbild im Krankenhaus viele alte, bereits verheilte Brüche. Die Diagnose: Osteogeneis imperfecta; die Glasknochenkrankheit.

Kein Lebensjahr ohne Knochenbrüche

Bis heute vergeht kein Lebensjahr des Jungen ohne Frakturen. Dabei springt er nicht auf einem Trampolin - wahrscheinlich kann er sich etwas brechen, reißt man ihm nur grob einen Stift aus der Hand. Eine Begleitperson muss jederzeit ein Auge auf ihn haben.

Seine Familie weiß: Der Gendefekt bedeutet nur, dass seine Knochen zerbrechlich sind. Der Junge ist intelligent und spielt, wie jedes Kind, gerne mit seinen Freunden. "Wir können Benjamin nicht in Watte packen", sagt seine Mutter. "Wir erziehen ihn zu einem selbstbewussten Menschen, er soll später ein selbst bestimmtes Leben führen."

Inklusion: Studie zeigt in Bayerns Defizite

Die Uno-Konvention, die seit 2009 auch in Deutschland gilt, besagt: Kein Kind soll wegen körperlicher oder geistiger Handicaps vom Besuch einer Regelschule ausgeschlossen werden. Doch eine gerade am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung erschienene Studie zeigt: Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind weitgehend untätig geblieben oder verzeichnen seit Geltung der Konvention sogar Rückschritte.

Die Kritikpunkte der Forscher: Schüler mit Behinderung haben Anspruch darauf, in einer nahegelegenen Schule gemeinsam mit Schülern ohne Behinderung unterrichtet zu werden. Inklusive Bildung verlangt sonderpädagogische Förderung, sprich Geld - doch in einigen Ländern, auch in Bayern, sei die Finanzierung inklusiver Beschulung nicht einmal ausreichend im Schulrecht konkretisiert. Diese Kritik wird in Veitsbronn im Landkreis Fürth am Beispiel von Benjamins Familie sichtbar.

Täglicher Schulweg als Problem

Der Junge besucht seit September 2019 die Realschule in Herzogenaurach. Das Gebäude ist barrierefrei gebaut - für den Schüler ist dies wichtig. Denn immer dann, wenn er sich gerade den Oberschenkelknochen gebrochen hat, sitzt er im Rollstuhl. Er geht gerne zur Schule, er versteht sich mit seinen Mitschülern und den Lehrern, einer seiner älteren Brüder ist ebenfalls dort Schüler. "Das ist für mich Inklusion", sagt seine Mutter.

Sie bringt ihn seit fünf Schuljahren tagtäglich zur Schule. Doch, wie jedes Kind wächst Benjamin. Er wird schwerer. Heilt sein Oberschenkel, nach einer Fraktur und einer erfolgten Operation, muss das Bein gestreckt gelagert werden - und dann passt der Junge nicht in das Auto der Familie. Ihn zu heben ist kaum möglich.

Streit um die nächstgelegene Schule

Seit Jahren fordert die Mutter die dauerhafte Einzelbeförderung ihres Jungen. Er soll sicher zur Schule kommen, wie jedes andere Kind auch. Es geht also um die Frage: Was bedeutet Inklusion wirklich?

Gestritten wird vor allem um zwei Dinge: den Ort der Schule - und die Art der Beförderung. Das Landratsamt Fürth will, dass Benjamin die Realschule Langenzenn besucht; sowohl die Realschule in Langenzenn als auch die Schule in Herzogenaurach ist etwa acht Kilometer von Benjamins Elternhaus entfernt.

Und doch lautet die Begründung der Behörde: die Beförderungspflicht bestehe laut Gesetz nur zur nächstgelegenen Schule. Benjamin soll mit dem öffentlichen Schulbus fahren, nach Langenzenn sei dieser kostenlos. Als die Mutter verlangte, das Gesundheitsamt einzuschalten, um fachärztliche Expertise einzuholen, wurde ihr auch dies zunächst verwehrt. Erst Monate später, nach mehreren Briefen, wurde doch ein Amtsarzt befragt. Das Fazit: "Aus amtsärztlicher Sicht ist für den Zeitraum ohne Frakturen die Beförderung in einem Schulbus mit einem Schulbegleiter möglich."

Frakturen und Muskelfaserrisse

Bei der Glasknochenkrankheit fehlt es an dem für den Knochenaufbau notwendigen Kollagen, daher sind die Knochen porös, sie brechen so leicht wie dünnes Glas. Betroffene Kinder neigen, "bereits bei kleinen Bagatelltrauma", so formuliert es Benjamins Kinderarzt Dr. Christof Land, zu Knochenbrüchen. Es handelt sich um eine chronische Krankheit. Tatsächlich vergeht kein Jahr, in dem Benjamin nicht mehrere Brüche, vorwiegend der Oberschenkelknochen, und schwere Muskelfaserrisse erlitt. Sein linker Oberschenkel wurde bereits genagelt.

"Wiederholte Knocheneinbrüche führten zur körperlichen Behinderung dieser Kinder", so der Kinderarzt. Er rät ausdrücklich von einem Transport im Schulbus ab. "Es ist hinreichend belegt, dass im Schulbus häufig Stürze und Verletzungen auftreten, die bei Benjamin unweigerlich zu Knochenbrüchen führen würden. Ich bitte deshalb um die dauerhafte Sicherstellung eines geeigneten Transports zur Schule".

Rollstuhl passt nicht durch die Gänge im Schulhaus

Auch den Zug nach Langenzenn könnte Benjamin übrigens kaum nutzen: Der nächste Bahnhof Siegelsdorf ist eineinhalb Kilometer entfernt. Dort führt eine Unterführung mit vielen Treppen zu den Gleisen, einen Aufzug gibt es nicht. Am Eingang der Realschule Langenzenn gilt es, eine Rampe zu überwinden. Leidet er unter einer akuten Fraktur, ist ihm auch dies ohne Hilfsperson nicht möglich.

Stehen im Langenzenner Schulgebäude die Türen der Klassenzimmer offen - sie öffnen sich zum Gang - passt ein Rollstuhl gar nicht durch die Flure. Die Fensterbretter und Heizkörper sind schon aufgrund ihrer Höhe ein zusätzliches Hindernis. Und sollte es in der Schule brennen, könnte er die Metalltreppen außerhalb des Gebäudes nicht überwinden. Selbst wenn zwei Schüler den Rollstuhl tragen würden, die Treppe wäre zu schmal. Das Gebäude ist nicht barrierefrei.

Jede Fahrt im Schulbus stellt eine Gefahr dar

Doch bislang glaubt die Behörde nicht, dass jede Fahrt in einem Schulbus eine Gefahr für ein Kind mit der Glasknochenkrankheit darstellt. Und gesehen wird auch nicht, dass ein Schulbegleiter inmitten des typischen Gedrängels von Kindern als eine Art Sicherheitskraft vor eine unlösbare Aufgabe gestellt wird.

Im Sommer 2019 hatte die Familie die kostenfreie Beförderung ihres Sohnes zur Realschule Herzogenaurach beantragt, er hat einen Grad der Behinderung von 70 Prozent, die Merkzeichen "G", "H" und "B" erläutern, dass Benjamin gehbehindert ist, hilfsbedürftig und Anspruch auf eine Begleitperson hat. Ärztliche Schreiben bestätigten und erläuterten dem Landratsamt die Krankheit.

Und doch gehen zwischen dem Landratsamt, der Regierung von Mittelfranken und der Familie viele Schreiben hin und her. Jeder Antrag auf Hilfe wurde abgelehnt, der Widerspruch ging bis zum Verwaltungsgericht Ansbach - und dabei schreien die Akten. Es wirkt, als stünden die Behörden der von der Politik gewünschten Inklusion im Weg. Das normale Leben, um das sich die Familie bemüht, um Benjamin zu einem selbständigen Menschen zu erziehen, wird von den Behörden behindert.

Vergleich vor dem Verwaltungsgericht

Vor dem Verwaltungsgericht Ansbach kam im Mai 2020 ein Vergleich zustande. Der Landkreis Fürth verpflichtete sich hier im umständlichen Behördendeutsch eine "zeitnahe Umsetzung des Einzeltransports zu ermöglichen", sobald das Kind "aufgrund von Einschränkungen durch seine Krankheit einen Einzeltransport benötigt." Man könnte es auch so formulieren: Benjamin muss sich erst einen weiteren Knochen brechen, einen Gips tragen oder auf einen Rollstuhl angewiesen sein, damit er einen Einzeltransport bekommt. Und damit die Behörde dies nachvollziehen kann, muss seine Mutter jedes Mal ein Attest beim Arzt besorgen und es vorlegen - egal, ob sich der Junge in der Schule verletzt oder am Wochenende.

"Die Hoffnung stirbt zuletzt."

Derzeit besucht Benjamin die 7. Klasse. Seine Mutter schöpft nun Hoffnung: In einem 17 Seiten langen Schreiben hat sie sich erneut an das Landratsamt und an Landrat Matthias Dießl gewandt und ihre Situation nochmals geschildert. Angeblich wird ihr demnächst der Einzeltransport gewährt. "Die Hoffnung stirbt zuletzt."

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