Lebensfreude als Heilmittel gegen die Sucht

9.12.2020, 16:52 Uhr
Christine Kuhn und ihr Mann Alfred Polak helfen Ex-Junkies beim Ausstieg – und wissen aus eigener Erfahrung, was das heißt.  

© Isabel Lauer Christine Kuhn und ihr Mann Alfred Polak helfen Ex-Junkies beim Ausstieg – und wissen aus eigener Erfahrung, was das heißt.  

Es war Liebe auf den zweiten Blick. Ein paar Jahre lang verbrachten Christine Kuhn und Alfred Polak viele Pausen miteinander. Tranken jeden Tag einen Kaffee, rauchten Zigaretten. Bis sie spürten, dass sie möglicherweise mehr sind als Kollegen. 2013 kamen sie zusammen, im vergangenen Jahr haben sie geheiratet.

Eine Ehe am Arbeitsplatz, das wäre nicht weiter bemerkenswert, aber diese zwei Menschen teilen eine viel größere Geschichte, als sie anfangs ahnten. Christine Kuhn und Alfred Polak waren beide 25 Jahre lang drogenabhängig. Sie lebten zur selben Zeit in der Heroinszene um Nürnberg, und sie können es heute kaum fassen, dass sie einander damals nie begegneten, beim Dealen, am Bahnhof oder in den einschlägigen Wohnungen. Dazu brauchte es die Nürnberger Drogenhilfe-Organisation Mudra, mit deren Hilfe ihnen der schon mehrmals gescheiterte Ausstieg endlich gelang. Hier fanden sie eine Festanstellung, die sie erfüllt und ohne Scham von der Vergangenheit erzählen lässt.

Vom Helfer zum Chef

Es solle in diesem Gespräch gar nicht so sehr um sie beide gehen, bittet das Pärchen. "Bei uns sitzen viele Mutmacher", finden sie. "Jeder Teilnehmer unserer beruflichen Integration ist auf einem Weg und hat schon ganz viel gedreht." Sie brauchen kein Sozialpädagogikdiplom für solche Empathie – sondern das Studium des eigenen Lebens.

Alfred Polak schöpft daraus beispielsweise die Engelsgeduld, die er als Leiter der sogenannten Tagesjobs benötigt. Er koordiniert bei der Mudra das Team für Wohnungsauflösungen und Umzüge. Zeitweise ist er mit seinem Handy verwachsen, so oft klingelt es. In seinem Büro in Leyh sind die Wände tapeziert mit Auftragszetteln für die nächsten zwei Wochen. Es half nur ein Wunder Wie belastbar seine rund 20 Mitarbeiter – ehemalige Konsumenten oder Junkies in Substitutionstherapie – an einem Tag sein werden, kann Polak noch am selben Morgen nie wissen. "Die Drogensucht bleibt eine psychische Erkrankung bis zum Lebensende. Wenn du glaubst, du hast es geschafft, ist das oft schon der Schritt in die falsche Richtung gewesen."


Zufall rettet Drogenabhängigem in Nürnberg das Leben


Seine Arbeit laufe "schräg, oft schief, aber manchmal auch großartig", sagt der 59-Jährige. Er ist überzeugt: Lebensfreude und Humor seien Waffen gegen die Sucht. "Warum sollst du aufhören, wenn eh alles scheiße ist?" Deshalb setze er sich für positive Stimmung in seinem Team ein. "Ich kaufe meinen Jungs und Mädels zum Beispiel hochwertiges Werkzeug. Wenn Dinge klappen, wenn die Rückmeldungen der Kunden passen, wenn es Trinkgeld gibt, wenn meine Leute zufrieden sind, spüre ich auch Befriedigung."

Vor 16 Jahren war es Polak, der stundenweise als Helfer in diesem Tagesjob anfing. Da hatte er mehrere Haftstrafen hinter sich, eine Hepatitis-Behandlung, und sein Vater, der ihn unterstützt hatte, war gestorben. Seit seiner Schulzeit hatte "das Ballern" den Takt vorgegeben. Er habe "in der Tragödie" seines Werdegangs Verantwortung übernehmen wollen. Er machte die nötigen Führerscheine, hängte sich rein. Und rückte schließlich zur Führungskraft auf.

"Jetzt werde ich 60, ist doch verrückt"

Bei Christine Kuhn brachte die Geburt ihrer heute 14-jährigen Tochter die Wende. Seit sie 13 war, hatte die Hersbruckerin mit Unterbrechungen Heroin und Amphetamin konsumiert. Dazwischen arbeitete sie in allerhand Jobs, vom Lkw-Fahren bis zur Auslandskorrespondentin. "Es war ein abenteuerliches, aber kein schlechtes Leben", sagt sie im Rückblick. Die Substitution erlebte sie als unwürdig – letztlich ihr Ansporn, clean zu werden. Sie machte eine Ausbildung in der akzeptierenden Drogenberatung und fing als Praktikantin bei der Mudra an. Heute vermittelt sie dort Ausstiegswillige mit dem Jobcenter in Beschäftigungsprojekte des gemeinnützigen Vereins. Die 54-Jährige sagt, sie könne bis heute jeden Menschen verstehen, der die Nüchternheit nicht erträgt.


Jasmin ist "drauf": Unterwegs mit einem Mudra-Streetworker


Christine Kuhn und Alfred Polak: ein Paar, das sich sein zweites, sein freies Leben nur mit einem Wunder erklären kann. "Mir haben sie gesagt, ich werde nie Kinder bekommen können", sagt sie. "Es sah schlecht aus, dass ich 30 Jahre alt werde", sagt er. "Jetzt werde ich 60, ist doch verrückt."

Spendenkonto: Mudra e.V., IBAN: DE74 7605 0101 0001 3345 86, Betreff "NZ-Leser helfen"

Verwandte Themen


Keine Kommentare