"Migranten ertrinken lassen": Nürnberger Pfarrer unterliegt giftigen Irrtümern

20.10.2020, 06:00 Uhr

© Emrah Gurel/AP/dpa

Der Theologe begründet das vor allem damit, dass sich die Menschen "bewusst" in Lebensgefahr brächten, um ihren Wunsch nach einem besseren Leben zu erfüllen. Dies verpflichte Christen aber nicht "ethisch zu entsprechender Erfüllungshilfe". Der Pfarrer attackiert dabei auch den Landesbischof.

Die Erkenntnis, die der Nürnberger Pfarrer am Ende gewinnt, ist bitterböse. Ein Christenmensch könne Migranten im Mittelmeer durchaus guten Gewissens ertrinken lassen, schreibt Matthias Dreher von der Melanchthon-Gemeinde. Sie trägt den Namen eines großen Humanisten. Der promovierte Nürnberger Geistliche gibt in seinem Text eher den Ungeistlichen.

Seine wilde These leitet er auf gedanklich abenteuerliche Weise im Korrespondenzblatt des Pfarrer- und Pfarrerinnenvereins in der evangelischen Landeskirche auf einer ganzen Seite her. Der Verein, Vertretung des Berufsstands, hat knapp 3000 Mitglieder, darunter fast alle, die aktiv Dienst tun in ihrer Landeskirche.


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Dreher gesteht zunächst zu, dass die Seenotretter im Mittelmeer nicht mit Schlepperbanden direkt kooperierten. Man stimme allerdings die "jeweiligen Seefahrt-Bewegungen aufeinander ab". Zustimmend zitiert er einen Zeitungsbericht, in dem es heißt: "Ohne die Seenotrettung funktioniert das Geschäft der professionellen Fluchthelfer nicht."

Dem Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm – er ist gleichzeitig Ratsvorsitzender der EKD – wirft Dreher unverhohlen Verschleierungsabsichten vor. Dass Retter und Schlepper in dieselbe Migrations- und Transport Struktur eingespannt sind, "soll offenbar niemandem bewusst werden". Bekanntlich unterstützt die EKD ein Seenotrettungsschiff im Einsatz nach Kräften. Die Migranten, die es aus dem Mittelmeer auffischt, nennt der Nürnberger Pfarrer Menschen, die ihren Wunsch nach einem besseren Leben verfolgten, und er fügt hinzu: "Das gibt ihnen aber weder das Recht, diesen Wunsch erfüllt zu bekommen, noch verpflichtet es uns ethisch zu entsprechender Erfüllungshilfe."

Die Flüchtenden brächten sich auf seeuntüchtigen Booten mit Sprit für wenige Seemeilen ganz "bewusst" in Lebensgefahr, um ihr Ziel zu erreichen. Man müsse ihnen endlich von "vernehmbarer Stelle" aus sagen: "Dass ihr weniger Mittel und Chancen habt als wir in Europa, entbindet euch nicht der Verantwortung für euer Leben!"

Matthias Dreher untermauert sein Populistentraktat mit der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers. Demnach, so behauptet er, sei "die operative Struktur-Politik" allein dem Staat überlassen. Und ein Christenmensch könne daher eben "Verantwortung vernachlässigende Migranten ertrinken lassen". Zynisch, so Dreher, sei das nicht.

Solchen Thesen müsse widersprochen werden, meint Landesbischof Bedford-Strohm etwas milde im Ton aber klar in der Haltung. Das gelte im Hinblick auf die Fakten und die Theologie. Luther selbst habe sich nämlich permanent in die Politik eingemischt.

Tatsächlich tut Dreher so, als gäbe es ohne Rettungsschiffe auch kaum Bootsflüchtlinge und deren riskante Überfahrten. Das verkennt die Wirklichkeit. Die Menschen sind derart verzweifelt, dass sie keinen anderen Weg sehen. Sie begeben sich in der Regel nicht in Lebensgefahr aus Kalkül, sondern aus größter Not.

© Foto: Theo Klein/epd

Die war zweifellos zuerst da, und nicht die Retter. Nicht anders war das schon bei den vietnamesischen Boatpeople der 1970er und 1980er Jahre. Davor verschließt der geschichtsvergessene Pfarrer fest die Augen.

Will Dreher vielleicht auch die Wasserwacht an bayerischen Seen abschaffen? Auch dort wird schließlich mancher Mensch gerettet, der seine Schwimmfähigkeiten leichtfertig überschätzt oder sich mit unzureichender Ausrüstung risikobereit zu weit vom Ufer entfernt. Wird der abgeschreckt, wenn er weiß, es stehen keine Retter für den Notfall bereit?

Zudem verschweigt der Pfarrer wohl nicht ohne Absicht aufwändige staatliche und kirchliche Programme, die Menschen in ihrer Heimat Perspektiven aufzeigen, damit sie ihr Leben eben nicht auf langen Märschen durch Wüsten und Fahrten über Meere gefährden müssen.


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Und den Reformator Luther macht der lutherische Theologe mit seiner minderwertigen theologischen Ware aus Nürnberg am Ende zu einem billigen Jakob. In seiner fast 500 Jahre alten Schrift "Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei", stellt Luther fest, dass Gott immer der Handelnde ist. Gesetze seien nur nötig, um diejenigen, die keine Christen seien, von ihren "bösen Taten" abzuhalten.


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Ein Christ könne "in der Gewalt" – gemeint ist der Staat – Gott dienen, "wenn es des Nächsten Not erfordert". Denn "ein kluger Fürst ist ein seltener Vogel". Wenn der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht befolgt werden könne, solle man Gott mehr gehorchen als den Menschen, heißt es im Augsburger Bekenntnis. Melanchthon überreichte die Schrift 1530 dem Kaiser. Sie ist bis heute Bekenntnisgrundlage aller lutherischen Landeskirchen und gilt demnach auch für einen Nürnberger Pfarrer.

Matthias Dreher unterliegt mehreren giftigen Irrtümern. "Büberei" würde Luther das nennen.

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