Eine Fürther Liebe, so alt wie das glücklich vereinte Volk

6.11.2014, 21:00 Uhr
Eine Fürther Liebe, so alt wie das glücklich vereinte Volk

© Foto: AFP

Den Fall der Mauer erlebten die meisten Menschen in Neumarkt vor dem Fernseher. Die Bilder vom 9. November und den Tagen danach haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Glückliche DDR-Bürger, die ihre überschäumenden Gefühle mit dem einen Wort „Wahnsinn“ zu beschreiben versuchten; staunende „Wessis“, die ausgelassen auf einreisende Trabbis klopften; tanzende Berliner auf der Mauer am Brandenburger Tor.

Beinahe jeder kann sich noch genau daran erinnern, wo und wie er die ersten Stunden und Tage nach Günter Schabowskis überraschender Ankündigung der Grenzöffnung erlebte. Das ist bei Lizzy Aumeier, der Kontrabassistin, Kabarettistin und Nürnberger Kulturförderpreisträgerin, und ihrem Mann Andreas Stock nicht anders.

Die beiden damals Frischverliebten lagen in Aumeiers winziger Wohnung in der Nürnberger Südstadt im Bett und starrten ungläubig auf den Bildschirm. Der gebürtigen Neumarkterin und ihrem Freund aus Leipzig, der schon 1984 als politischer Häftling von der Bundesrepublik freigekauft worden war, liefen vor Rührung und Glück die Tränen über die Wangen. „Jetzt“, sagte Lizzy zu ihrem Andreas, „jetzt kann ich deine Familie kennenlernen.“

Dass sich eine Oberpfälzerin in einen Sachsen verliebt, das war im Juni 1989 noch etwas ziemlich Exotisches – und ist auch ein Vierteljahrhundert später noch längst nicht die Regel.

Elisabeth Aumeier, Jahrgang 1964, wuchs in Neumarkt auf. Da war die DDR weit weg. „Ich hatte niemanden, dem ich Pakete in den Osten geschickt habe“, sagt sie. Von der DDR kannte Lizzy Aumeier ansonsten nur die Transitstrecke nach Berlin, die Grenzkontrollen mit teilweise elend langer Warterei und die beklemmenden Fahrten mit Tempo 100 auf der alten Betonstrecke durch eine graue, trostlose Landschaft. „Ich fand die DDR bedrohlich, und die Grenze hat mich fertig gemacht“, beschreibt sie das Gefühl vieler Berlin-Fahrer zur Zeit des Kalten Krieges.

Andreas Stock, geboren im Jahr 1960, hat die Bedrohlichkeit aus nächster Nähe erlebt. Der Vater, der nie ein Blatt vor den Mund nehmen wollte, besaß eine Kunstschmiede in Leipzig und kam mit dem System des „real existierenden Sozialismus“ nie zurecht. Zwei Onkel von Andreas Stock arbeiteten als Pfarrer in Thüringen; die Kirche bot der Familie eine Heimat. Andreas entschied sich als 15-Jähriger für die Konfirmation und gegen eine Jugendweihe – und stand damit in seiner Klasse ziemlich alleine da. Denn wer sich schon konfirmieren ließ, ging auch zur Jugendweihe, um sich keine Zukunftschancen zu verbauen. Stock durfte kein Abitur machen, geschweige denn studieren. Er begann eine Schreinerlehre.

Insistierende Fragen

Gleichwohl entging auch er nicht dem Sog der gesellschaftlich-politischen Bildung: „Ich wurde Thälmann-Pionier, ohne dass es mich wesentlich ideologisch verändert hätte.“ In Erinnerung sind ihm aber die insistierenden Fragen der Pionierleiter geblieben, die wissen wollten, „was die Eltern so machen und was zu Hause für Fernsehsender gesehen werden“.

Mit 18 kam er erstmals ins Gefängnis. Mit einem Freund war er in die Tschechoslowakei gereist. Nahe der Grenze wurde er in der Nacht von einem Kontrollposten aufgegriffen. „Versuchte Nichtwiederrückkehr in die Deutsche Demokratische Republik“ lautete das Vergehen.

Was darauf folgte, war eine wahre Odyssee durch verschiedene Gefängnisse der DDR, Verhöre, Gerichtsverhandlung, Verurteilung. Nach 16 Monaten, im November 1979, wurde er entlassen.

Wieder in „Freiheit“, absolvierte er in der elterlichen Kunstschmiede noch einmal eine Ausbildung, ehe er sich als Schauspieler den „Leipziger Spielgemeinden“ anschloss, einer Theatergruppe, die durch Sachsen tingelte. Im DDR-Jargon hieß seine Tätigkeit „Volksmissionarischer Mitarbeiter im schauspielerischen Reisedienst“.

Der DDR hätte Stock am liebsten den Rücken gekehrt, er schrieb an die 30 Ausreiseanträge. Alle wurden abgelehnt. Anfang 1984 floh er in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin in der Hoffnung, auf diese Weise endlich ausreisen zu dürfen. Doch es kam zunächst zu weiteren Monaten im Gefängnis, bis er schließlich vom Westen freigekauft wurde.

Die erste Zeit schlug er sich als Schauspieler und Chorsänger durch und verkaufte Versicherungen. Im Juni 1989 führte ihn ein Engagement nach Heidenheim auf der Schwäbischen Alb. Er sang im Opernchor, im Orchester stand am Kontrabass Lizzy Aumeier, die Musikstudentin, die als Praktikantin mit den Nürnberger Symphonikern nach Heidenheim gekommen war.

Eine Fürther Liebe, so alt wie das glücklich vereinte Volk

© Foto: Edgar Pfrogner

Nach der Vorstellung nahmen die Dinge ihren Lauf: Lizzy und Andreas lernten sich kennen – und lieben. Zur privaten Verbindung ist längst die geschäftliche hinzugekommen. Andreas Stock macht das Management für die vielbeschäftigte Musikerin und Kabarettistin.

Liebe zur Bühne

Sie teilen die Liebe zur Bühne, ebenso die Liebe zur klassischen Musik und den Glauben: „Wir beten auch gemeinsam“, erzählt Lizzy Aumeier. „So unterschiedlich war unser Weg gar nicht“, sagen beide. Sie schätzt seine Sparsamkeit, seinen achtsamen Umgang mit Lebensmitteln, seine Improvisationskunst, zu der ihn der dauerhafte Mangel im Osten erzogen hat. Doch viel wichtiger als die verschiedenen Systeme, die ihr Leben in jungen Jahren prägten, empfinden sie die Erziehung in der Familie: das freie Denken und Reden, den kritischen Geist, die Religiosität.

Gibt es dennoch etwas, woran man Unterschiede festmachen kann? Lizzy Aumeier und Andreas Stock müssen überlegen, bis sie zu Antworten kommen, die alte Klischees bedienen, wie etwa die FKK-Kultur im Osten. „Ich war erstaunt, wie frei sie im Osten mit Sex umgegangen sind“, fährt Lizzy Aumeier fort. Außerdem schaue sich Andreas bis heute begeistert Kataloge und Prospekte an, was sie als Ergebnis der lang erlebten Mangelwirtschaft interpretiert.

Sorgen macht sich die Musikerin allerdings um die Spätfolgen seiner Haft. Die nächtelangen Verhöre der Stasi und Schikanen der Wachleute könnten Spuren in seiner Seele hinterlassen haben, die später wieder aufbrechen – ähnlich wie die Kriegserlebnisse in der Generation ihrer Großeltern.

Die Stasi-Spitzel sind bekannt

Andreas Stock hat einiges getan, damit es nicht dazu kommt, hat seine Geschichte aufgearbeitet: Er hat nach seiner Freilassung viele Vorträge gehalten über die Jugenderziehung in der DDR und seine Haft. Er kennt seine Stasi-Akte und weiß, wer ihn einst bespitzelt hat. Derzeit schreibt er ein Buch über seinen Weg in die Freiheit.

Der Jahrestag des Mauerfalls spült bei vielen Menschen noch einmal Erinnerungen hoch, doch im Alltag der meisten Deutschen spielt die jahrzehntelange Teilung längst keine Rolle mehr. Manche Teenager wüssten schon gar nicht mehr, dass es mal zwei deutsche Staaten gab, hat Lizzy Aumeier bei ihren Bühnenprogrammen schon erlebt. Andreas Stock formuliert es so:„Wir fühlen uns als Teil der Geschichte, aber wir merken, dass sie an Bedeutung verliert.“

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