Exzess der Gewalt: SA-Männer stießen Frau Baruch die Treppe runter

8.11.2018, 19:10 Uhr
Exzess der Gewalt: SA-Männer stießen Frau Baruch die Treppe runter

© Foto: Wolfgang Fellner

Ernst Haas war der einzige Neumarkter jüdischen Glaubens, der die Konzentrationslager der Nationalsozialisten überlebt hat. Am 1. Juni 1925 geboren, hatte seine Familie bereits kurz nach Beginn der Nazi-Diktatur Neumarkt verlassen, weil dort kein Leben mehr für sie möglich war. Er starb nach kurzer Krankheit am 23. August 2016 in New York.

Im Frühjahr 1945 hatten die Russen Ernst Haas aus dem KZ Stutthof bei Danzig befreit, wo er fast sein Leben gelassen hätte. Jahrzehnte lang wollte er von seiner alten Heimat, seiner Geburtsstadt Neumarkt, nichts mehr wissen, hatte mit Deutschland abgeschlossen. Es gibt aus den 80er Jahren einen Briefwechsel der Neumarkter Nachrichten mit Ernst Haas, doch selbst damals war die Bereitschaft, wieder in Kontakt mit der alten Heimat zu treten, noch nicht vorhanden.

Das Eis gebrochen haben später drei Schülerinnen des Ostendorfer-Gymnasiums. Sie wandten sich an Ernst Haas, um mehr über das schlimme Schicksal der von ihm geliebten und im KZ ermordeten Schwester Ilse zu erfahren. Mit dem noch größeren Abstand an Jahren und beeindruckt vom Vorhaben der Mädchen überwand sich Ernst Haas und sprach erstmals mit Neumarktern über sein und das Schicksal seiner Familie.

Seither besteht ein enges, freundschaftliches Band zwischen New Jersey, wo Ernst Haas mit seiner Frau Myrna lebte, und Neumarkt. Als am Oberen Markt für seine Familie Stolpersteine verlegt wurden, kam Myrna Haas mit ihren Söhnen Michael und Andrew eigens nach Neumarkt, um der Zeremonie beizuwohnen.

In der Schule terrorisiert

Für die NN hatte sich Ernst Haas 2008 anlässlich des schrecklichen Jahrestages noch einmal daran erinnert, was am 9. November 1938 geschah. Damals war die Familie schon vor dem täglichen Terror im nazi-braunen Neumarkt nach Fürth geflüchtet. "Am 9. November 1938 lebte ich mit meiner Familie in Fürth. Wir waren gezwungen gewesen, Neumarkt zu verlassen, weil ich dort in der Schule ständig terrorisiert und geschlagen worden war. Mein Vater Semi war einige Tage vor dem 9. November zu seinem Vater Seligman Haas gefahren, der immer noch im Haus in der Wiesenstraße 2 (heute Stefanstraße) mit seinem Sohn Albert Haas, Rosa und Louis Loew sowie Herrn und Frau Kramer, die man aus ihrer Wohnung vertrieben hatte, lebte.

Als die Zerstörung und Plünderung des jüdischen Besitzes und der Synagoge begann, wurden die Juden verhaftet und ins Gefängnis gebracht; die Männer wurden brutal zusammengeschlagen. Einer von ihnen, Herr Landecker, starb noch an diesem Tag. Ein anderer, Louis Loew, der Zwillingsbruder meiner Großmutter, wurde ebenfalls so brutal misshandelt, dass er danach nicht mehr in der Lage war, zu gehen. Er starb wenige Monate später.

Familie Baruch, die in der Bahnhofstraße gewohnt hatte, hatte man gezwungen, in eine kleine Wohnung über der Synagoge in der Hallertorstraße zu ziehen. Familie Baruch hatte ein Bekleidungsgeschäft für Herren an der Adolf-Hitler-Straße, dem heutigen Oberen Markt. Am 9. November warfen SA-Männer Frau Baruch die Treppe hinunter. Weil es nur noch weniger als 50 Juden in Neumarkt gab, war der Prozentsatz derjenigen, die getötet wurden, sehr hoch.

Mein Vater und andere wurden nach Dachau verschleppt; nicht aber mein Großvater. Sein Schicksal sollte ihn später ereilen. Als wir die brennenden Synagogen sahen, flüchteten meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester und ich in den Wald und versteckten uns außerhalb von Fürth. Wir hatten keine Vorstellung davon, wo unser Vater war. Wäre er an diesem Tag in Fürth gewesen, wäre er nicht inhaftiert worden wie die anderen jüdischen Männern. ,Kriegsfreiwillige‘ und ,Schwerkriegsbeschädigte‘ (das war mein Vater) ließ man in Frieden. In Neumarkt war man strenger mit der Verfolgung der Juden. Eine Nachbarin in Fürth erhielt später eine Urne mit der Asche ihres Mannes mit der Notiz, dass ihr Mann getötet worden sei, als er aus Dachau fliehen wollte (sehr unglaubwürdig)."

Das Unrecht ist unvergessen

"Wir waren sehr verstört. Mein Vater kam ungefähr drei Wochen später wieder zurück. Seine Erlebnisse sind uns Kindern nicht erzählt worden. Er begab sich weitere Male in Gefahr und kehrte mehrmals nach Neumarkt zurück, um seinen Vater zu besuchen. Das endete im November 1941, als wir deportiert wurden. Wir erlebten das nackte Grauen, bis das eintrat, was nicht ausgesprochen werden kann. Zum Jahreswechsel 1942/43 wurde Neumarkt als ,judenrein‘ tituliert. Ein furchtbarer Verlust für uns und Neumarkt."

Wie tief die Unsicherheit und Verbitterung saß und sitzt, gestand einmal Myrna Haas. Bei einem Besuch in Neumarkt sagte die New Yorkerin, Jüdin und Amerikanerin und erst durch ihren Mann mit dem endlosem Leid der Juden Europas brutal konfrontiert: "Wenn ich Menschen hier in Neumarkt in meinem Alter oder älter sehe, frage ich mich immer, was sie wohl damals getan haben."

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