12. Oktober 1969: Jugend ist tauglicher und „wehrfreudiger“

12.10.2019, 07:00 Uhr
12. Oktober 1969: Jugend ist tauglicher und „wehrfreudiger“

© NN

Aber nicht nur „wehrfreudiger“ scheint unsere Jugend geworden zu sein. Sie wird auch immer „tauglicher“. 75 v. H. aller Gemusterten werden nach einer fast unglaublich erscheinenden Untersuchungs-Prozedur für tauglich befunden. Damit liegt Nürnberg um rund zehn v. H. über dem Bundes-Durchschnitt. Nur etwa zehn v. H. aller Gemusterten werden als völlig untauglich entlassen. Das vom Bundesverteidigungsminister veranlaßte Großamt Nürnberg/Fürth ist gegenwärtig zuständig für etwa 1,1 Millionen Einwohner Frankens. Die Entwicklung soll aber noch weitergehen: der Plan eines sogenannten Musterungs-Zentrums ist in greifbare Nähe gerückt. Sinn dieser Maßnahme, die letztlich von dem Erweiterungsbau der Dienststelle in der Praterstraße 14 abhängt, ist eine noch weitergehende Intensivierung des ärztlichen Untersuchungs-Apparates. Zu dem Amtsarzt-Kollegium sollen eines Tages noch zivile Fachärzte für innere Medizin, Orthopädie sowie Augen- und Ohren-Krankheiten mit eigenen Laboratorien kommen.

Im Gegensatz zu früher sei die Musterungsbehörde heute eine rein zivile Einrichtung, meinte Dr. Bauer. Es ist richtig: bis auf einen Wehrberater sieht man in dem Amt keinen Uniform-Träger. Der im Amt herrschende Ton läßt allerdings nicht vergessen, daß man sich Vorzimmer der Bundeswehr befindet. Heuer wird der Jahrgang 1950 mit rund 6000 Wehrpflichtigen in Nürnberg und Fürth gemustert – es sind weit weniger als in den vorausgegangenen Jahren. Hier zum Vergleich die Angehörigen anderer, bereits gemusterter Jahrgänge in Nürnberg und Fürth. 1949: 7800, 1948: 7000, 1947: 7000, 1946: 6000, 1945: 5000 und 1944: 7000. Fortan aber werden sich, so erklärte man uns, die Zahlen weiter aufwärts entwickeln. Diese Zahlen sind allerdings nicht identisch mit der Anzahl der Untersuchungen, weil der Musterung in sehr vielen Fällen Nachuntersuchungen folgen, wenn Wehrpflichtige noch vor dem Stellungs-Befehl irgendwie gesundheitlichen Schaden genommen haben. So ergeben sich in der Regel doppelt so viele Untersuchungen als Wehrpflichtige vorgeladen werden.

12. Oktober 1969: Jugend ist tauglicher und „wehrfreudiger“

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Die eigentliche Musterung beeindruckt heute vor allem durch die Intensität der medizinischen Untersuchung, der eine Vielzahl modernster Geräte und Apparaturen zur Verfügung stehen. Sehr viel gründlicher könnte es eine Klinik auch nicht praktizieren. Und im Ernstfall kann man immer noch auf private Spezialisten zurückgreifen, die auf diese Aufgabe vereidigt sind. Die Zeiten, da der Musterungsarzt die Reihe nackter Rekruten abschreitet und auf einen Blick feststellt: „tauglich, tauglich…“, die sind offensichtlich vorbei.


Psychologischer Test


Nach der rein medizinischen Untersuchung folgt noch ein psychologischer Test, der auch Rückschlüsse auf die Verwendungsmöglichkeit bei dieser oder jenen Armeegattung geben soll. Rund 15 v. H. der Wehrpflichtigen werden nur eingeschränkt tauglich geschrieben: – „verwendungsfähig nur im Kriegsfall und da im ganz bestimmten Einsatz“. Hauptursache dafür: Wirbelsäulen-Schäden sowie organische Mängel, die hauptsächlich auf erhöhten Nikotin- und Alkoholgenuß zurückgeführt werden. Kreislauf-, Herzschäden sowie Defekte am Verdauungstrakt sind heute bei 18jährigen keine Seltenheit mehr. Sind solche Mängel aber ganz besonders schwerwiegend, so wird der Gemusterte untauglich (für alle Zeiten) geschrieben. Dazu gehört auch, was erfahrungsgemäß relativ häufig vorkommt: sechs Zehen an einem Fuß. Dr. Hochsieder berichtet von einem wehrpflichtigen Landwirtssohn, der erst am Tag der Musterung von dieser Mißbildung erfuhr. In solchen Fällen müßte die Bundeswehr „Maß-Knobelbecher“ anfertigen. Und das käme offenbar zu teuer. Bei diesem Aufwand an medizinischen Raffinessen, wie sie die Amtsärzte bei der Musterung besitzen, ist es heute fast ausgeschlossen, die Medizinmänner durch Vortäuschen einer Krankheit hereinzulegen. Dagegen haben „Kriegsdienstverweigerer aus Überzeugung“ berechtigte Aussichten, nie ein Gewehr in die Hand nehmen zu müssen.

Etwa zwei v. H. der Wehrpflichtigen stellen Anträge, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. Drei Motive kommen hierfür in Frage: religiöse, ethisch-humanitäre und politisch-weltanschauliche Gründe. In etwa 75 v. H. der Anträge wird im Sinne des Kriegsdienstverweigerers entsprochen, wenn er nicht nur mit Schlagworten hantiert, sondern die Kommission von einer getroffenen Gewissensentscheidung überzeugen kann. Dann kommt die Ersatzzeit, die heute noch 18 Monate beträgt, die aber auf 22 oder sogar 24 Monate erhöht werden soll.

 

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