14. Juni 1970: Missratene Mission

14.6.2020, 07:00 Uhr
14. Juni 1970: Missratene Mission

© Ranke

Im Nürnberger Zirkuszelt auf der Deutschherrnwiese, in dem sich bestenfalls trompetende Elefanten durchsetzen könnten, verschüttete ein rund dreistündiger Tonschwall die Botschaft von Glaube und Schönheit: „black and white“.

Der „Hair“-Heilsgedanke scheiterte nicht nur an der miesen Akustik, sondern auch an der billigen Besetzung. Wo für die Münchner Premiere am 24. Oktober 1968 ein perfekter Akteur wie Reiner Schöne als Kommunenchef Berger seine Hippie-Horde anheizte, tingelt in Nürnberg ein flaumiger Klischeerocker (namens Harry Wieser) unter den Tiefstrahlern.

Dieses Niveau ist kennzeichnend für die gesamte Bodenakrobatik und das Stimmvolumen der Solosänger; so wurden das ohnehin dürftige Handlungsgerippe noch deutlicher, die Werbekalauer penetranter und die Nummernkrücken quälender. Da konnte sich auch das blonde Nachwuchssternchen des Schlagermarktes Jürgen Markus als Wassermann und späteres Vietnam-Opferlamm nur hilflos und photogen über die Runden retten.

Wenn man das Sendungsbewußtsein der Musicalzwillinge James Rado und Gerome Ragni und des deutschen Schnulzentexters Walter Brandin einmal ausklammert, reicht die Tourneeaufbereitung nicht einmal an gehobene, lukullische Operettenansprüche heran.

Die Spekulation mit dem Skandal ist das Kennzeichen dieser Wanderinszenierung. Was bei Kolle längst Klassik ist, will man hier den fränkischen Konsumenten als Sensation verkaufen. Zu diesem Zweck polierten die Inszenatoren Gina Harding und Holger Münzer die in München vom Staatsanwalt zensierten Nackedeiszenen für die Zeltparade wieder auf. Der Schockeffekt ging im Beifallssturm unter. Es weitete sich bei einigen Zirkusbesuchern mehr die Pupille, aber weniger das Bewußtsein.

Das Spiel der Blumenkinder vom Off-Broadway wurde nach der Ablösung von LBJ nicht mehr aktualisiert. Nixon fehlt in der Pop-Prominenz. Auf den Posters, die von der emsigen, spielfreudigen Compagnie dekorativ demonstriert werden, bagatellisieren Gemeinplätze von Liebe und Frieden die Porträts von Che Guevara und Ho Tschi Minh. Hier wird Agit-Prop zur Farce für die volle Kasse. Daß einige Massenszenen choreographisch immer noch eindrucksvoll sind, liegt an der naiven Selbstdarstellung und dem körperlichen Einsatz des gesamten Ensembles. Das präzise Broadwaymodell besorgt den Rest. Bei den Massenszenen kann sich die Prager Band „The Blus-Men" endlich von der Partitur lösen und wenigstens gemäßigte Eskapaden in Free-Rock-Bereiche leisten.

Der Nummernapplaus steigerte sich zum Finale immer mehr, um dann beim „Sing-Out“ nach Massensterben im Atomstaub in einen allgemeinen Faschingstanz aufzugehen. Die farbige Pflichtübung in Provokation („Wir lieben euch alle, ihr weißen Scheißer!“) tat der Freude keinen Abbruch. Bert Brecht: „Die Gesellschaft muß einen sehr hohen Stand erreicht haben, das heißt sehr viel mit wenig Mühe produzieren können, daß Kunstwerke ausweglose Verzweiflung ausdrücken dürfen und damit kleinere Verstimmnugen einzelner beseitigen.“ 

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