9. Juni 1970: Mit Waffen in die Freiheit?

9.6.2020, 07:00 Uhr
9. Juni 1970: Mit Waffen in die Freiheit?

© NN

48 Minuten nach dem Start setzte die mit weiteren 15 Passagieren besetzte Turbopropmaschine auf dem Nürnberger Flughafen auf. Die Entführergruppe – darunter zwei verheiratete Paare und ein zweijähriges Kind – wurde von einem Großaufgebot der Polizei in Empfang genommen. Widerstandslos ließ sie sich entwaffnen und abführen.

Im Transitraum des Flughafengebäudes wurden die dreiköpfige Besatzung und die Passagiere verhört. Chefpilot Bretislav Moracek (44) schilderte den Überfall. Demnach hatten die Entführer sich gewaltsam zwei Minuten nach dem Start in Karlsbad Zutritt zum Cockpit verschafft und mit Pistolen die Mannschaft zur Kursänderung in den Westen gezwungen. Als Ziel hatten die Täter Nürnberg angegeben. Über den zentralen Sender in Frankfurt hatte man die Maschine nach Nürnberg dirigiert.

9. Juni 1970: Mit Waffen in die Freiheit?

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Erst um 15.45 Uhr wurden die Enttführer zu Vernehmungen ins Polizeipräsidium gebracht, von wo aus sie später dem Ermittlungsrichter zur Prüfung der Haftfrage überstellt wurden.

In der Zwischenzeit befand sich die Maschine, die um 15.26 Uhr in Nürnberg startete, mit den 15 Passagieren und der dreiköpfigen Besatzung auf dem Rückflug in die CSSR, nach Prag.

Passagiere der tschechischen Maschine mit Getränken und Schnitzel bewirtet Nach der Entführung:vier Männer und eine Frau wurden verhaftet Drei Frauen und das zweijährige Kind kamen ins Ausländerlager nach Zirndorf – Entscheidung über ihren Antrag auf politisches Asyl wurde noch nicht gefällt – Passagiere lobten gesittetes Verhalten der Luftpiraten – 15.26 Uhr Rückflug

„Ich hab mir gleich gedacht, daß hier etwas nicht stimmt“, sagte eine erfahrene Stammkellnerin des Nürnberger Flughafen-Restaurants, als gestern um 11.14 Uhr auf dem Vorfeld eine Passagiermaschine in Begleitung von zwei grünen Polizeiwagen heranrollte.

Das jüngste Kapitel internationaler Luftfahrtpiraterie ging damit zu Ende. Als sich nach bangen Minuten der Ungewißheit die Tür der Maschine öffnete und die Treppe mit der großen Aufschrift „Nürnberg“ herangerollt war, verließen acht junge Menschen erleichtert, wenn auch blaß, die Iljuschin 14.

Zusammen mit 15 Kurgästen hatten die Entführer um 10.15 Uhr in Karlsbad die Maschine der „Cekoslovenske Aeroline“ bestiegen. Um 10.26 Uhr sollte das Flugzeug in Prag ankommen. Zwei Minuten nach dem Start jedoch brach einer der Entführer die verschlossene Tür zum Cockpit mit einem Schraubenzieher auf. Mit einer Pistole hielt er die Besatzung in Schach, während zwei andere Männer und eine Frau die übrigen 15 Passagiere mit vorgehaltenen Waffen bedrohten.

Polizeieskorte stand bereit

Wenige Minuten, nachdem die Maschine auf Westkurs abgedreht hatte, erfuhr die Flugsicherung in Nürnberg, daß sie mit einer unplanmäßigen Landung zu rechnen hatte.

Gleichzeitig wurde für die Polizei Großalarm gegeben. Streifenwagen jagten zum Flughafen und als die Maschine zur Landung aufsetzte, hatte sie bereits eine Polizeieskorte. Kaum stand die Iljuschin, wurde sie von mit Maschinenpistolen bewaffneten Beamten umstellt. Als die Entführer sodann die Gangway betraten, hielten sie ihre Waffen noch in der Hand.

Das zwei Jahre alte Kind von einem der Ehepaare begann auf dem Arm der Mutter zu weinen. Widerstandslos gaben die Luftpiraten ihre Waffen ab. Erst dann stiegen die übrigen Passagiere und die Besatzung aus.

Ohne jede Scheu wartete die Entführertruppe am Rollfeld auf den Abtransport im Streifenwagen. Polizeibeamte durchsuchten die Passagierkabine auf weitere Waffen. Erste Versuche, sich mit der Crew oder den Entführern zu verständigen, scheiterten an Sprachschwierigkeiten. Keiner der Tschechen konnte Deutsch oder wenigstens Englisch. Im Büro der bayerischen Grenzpolizei wurden Entführer und das Kind mit Getränken bewirtet. Die Passagiere lud die Lufthansa zum Schnitzel ein.

Gegen die vier Männer und eine Frau erließ gestern abend der Ermittlungsrichter Haftbefehl wegen „Freiheitsberaubung, Nötigung und Bedrohung“. Nur die Verhafteten hatten während der Entführung Waffen getragen. Jetzt muß die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob gegen sie Anklage erhoben wird, oder ob sie an die CSSR ausgeliefert werden. Bis jetzt liegt allerdings kein entsprechender Antrag vor.

„Die kürzeste Route ...“

Die an der Entführung schuldlosen Passagiere nahmen ihr Schicksal gelassen hin. Bohumir Hubka erklärte nach der Landung: „Es ging alles so schnell. Ich wußte erst gar nicht, wohin es gehen soll. Erst als ich die Autobahn sah, ahnte ich, das muß Westdeutschland sein.“

Ein anderer Fluggast nahm es mit Humor: „Von Karlsbad nach Prag über Nürnberg – an sich die kürzeste Route.“ Alle Passagiere bescheinigten den Entführern: „Sie haben sich trotz allem sehr gesittet benommen.“ Passagiere und Mannschaft wurden zwei Stunden lang von der Kriminalpolizei vernommen. Um 15.26 Uhr konnten sie, um ein Abenteuer reicher, mit der vollgetankten Maschine nach Prag-starten. 

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