Antisemitismus: Die Angst unter Nürnbergs Juden wächst

29.11.2019, 06:00 Uhr
Antisemitismus: Die Angst unter Nürnbergs Juden wächst

Wenn ihre Tochter das Haus verlässt, rät Natalie Grabowski ihr manchmal, die Kette mit dem Davidstern lieber abzunehmen. Nicht, wenn die Tochter ihre Freunde trifft; sondern dann, wenn die junge Frau irgendwo hingeht, wo sie vielleicht mit Anfeindungen wegen ihres jüdischen Glaubens rechnen müsste. "Diese Sorge hatte ich früher nicht", sagt die 51 Jahre alte Mutter. Denn eigentlich hätten sie ihre Kinder dazu erzogen, selbstbewusst aufzutreten, auch in Sachen Religion, meinen Natalie und Gabriel Grabowski (56). Doch seit der Zunahme von Angriffen auf Menschen, die ihren jüdischen Glauben nicht verstecken und in der Öffentlichkeit zum Beispiel eine Kippa tragen, ist vor allem Natalie Grabowski manchmal mulmig.

Antisemitismus: Die Angst unter Nürnbergs Juden wächst

Der wachsende Antisemitismus im Alltag treibt auch in Nürnberg lebende Juden um. Ein ganz normales jüdisches Leben sei sowieso "eine Illusion". Solange die Gemeinde Zäune, Kameras und schusssichere Türen brauche, könne man nicht von Normalität sprechen, sagt Jo-Achim Hamburger, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG).

"Das macht etwas mit einem"

Mit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ist so etwas wie Normalität für die Gemeinde noch weiter in die Ferne gerückt. Die abstrakte Gefahr ist real geworden. "Das macht etwas mit einem. Man ist nicht unbefangen", meint Hamburger. "Aber wir lassen uns von Nazis und Neonazis nicht vertreiben. Das ist unser Land, und wir bleiben da", sagt er entschieden.

Andere Mitglieder der Gemeinde fragen sich allerdings, wie lange sie noch sicher in Deutschland leben können. Zum Beispiel Diana Liberova. Sie kennt die jüdische Gemeinde in Halle aus ihrer Studentenzeit. Sie hat Freunde und Bekannte dort, die den Anschlag, verbarrikadiert in der Synagoge, miterleben mussten. Nach dem ersten Schock und der Erleichterung darüber, dass die Gemeindemitglieder mit dem Leben davongekommen sind, "geht dir viel durch den Kopf". Zum Beispiel die Frage, was Halle für sie und ihre Familie bedeute, sagt die 38-Jährige.

Antisemitismus: Die Angst unter Nürnbergs Juden wächst

Liberova kam als junges Mädchen mit ihren Eltern und ihrem Bruder von Russland nach Deutschland. Auslöser für das Auswandern der jüdischen Familie war der wachsende Antisemitismus dort. Die Familie entschied sich nicht für Israel, sondern für die BRD. Sie kam zunächst in den Grundig-Türmen in Nürnberg unter. Später lebte die Familie in einer Unterkunft für jüdische Kontingentflüchtlinge in Erlangen, bevor sie nach Nürnberg zog. Liberova studierte Musikwissenschaften und Pädagogik, die SPD-Stadträtin bildet heute Lehrer fort.

Zeitpunkt für einen Absprung

Die Familie kam ins Land im Vertrauen darauf, hier sicher leben zu können. Heute hat diese Überzeugung Risse. "Ich glaube immer
noch dran, dass jüdisches Leben in Deutschland Zukunft hat, und werde jedem, der das infrage stellt, die Stirn bieten." Aber trotzdem ist Liberova auf der Hut, sie will "den richtigen Zeitpunkt für die Familie nicht verpassen". Den richtigen Zeitpunkt für den Absprung.

Sie ist nicht die Einzige, die so denkt. Es sei nicht so, dass die Juden ihre Koffer aus dem Keller holten und anfingen zu packen, sagt Gabriel Grabowski. Er kam ebenfalls als Jugendlicher nach Deutschland, arbeitet heute als Arzt in Nürnberg und engagiert sich in der IKG. Es sei noch nicht so schlimm, dass man hier weg müsse. Aber es gibt sie mittlerweile auch in seiner Familie: die Gedanken, das Land vielleicht irgendwann verlassen zu müssen. "Im Moment ist es regelmäßig Thema, wohin wir auswandern könnten", ergänzt seine Frau Natalie. "Die Angst der Juden in Deutschland wird größer." Vor allem die beiden 23 und 25 Jahre alten Kinder treibt die Frage des Auswanderns um. "Das macht uns sehr traurig."

"Ich bin erschrocken über die Anzahl"

Der Anschlag von Halle ist das eine. "Die Wahrscheinlichkeit, dass so was passiert, ist Teil der jüdischen Lebenswirklichkeit. Jetzt glaubt es vielleicht jeder, dass so etwas passieren kann", sagt Diana Liberova, die Frau mit den dunklen Locken. Sie sagt das in Richtung der Menschen, die der jüdischen Gemeinde den Vorwurf machen, sich zu verbarrikadieren.

Antisemitismus: Die Angst unter Nürnbergs Juden wächst

Das andere ist der ganz alltägliche Antisemitismus. Laut einer Studie des Jüdischen Weltkongresses hat jeder vierte Deutsche antisemitische Gedanken. "Ich bin erschrocken über die Anzahl", meint Liberova. Aber richtig schockiert sei sie nicht, weil es so viel Unwissenheit über das Judentum und Jüdischsein gebe.

Für Einschüchterung kein Platz

Antisemitismus und Vorurteile begegnen der Familie regelmäßig. "Einmal wurde ich aus einer Veranstaltung ausgeladen wegen der Politik von Israel", erzählt die Stadträtin. Und ihr Mann sei einmal gefragt worden, ob er nicht drei Millionen Euro besorgen könne. Schließlich sei er Jude. Liberova reagiert mittlerweile mit Sarkasmus darauf, wenn ihr wieder jemand mit der jüdischen Weltverschwörung kommt.

Liberova sagt ihre Sätze mit Bestimmtheit. Sie wirkt nicht so, als wäre sie leicht einzuschüchtern. Doch die Zukunft ihrer Kinder treibt sie um. Vor allem der Aufstieg der AfD macht ihr Sorgen. Ihre Tochter diskutiert mit ihren Freunden auf WhatsApp, wer das Land verlassen werde, wenn die AfD noch mehr Zulauf und Macht bekommt.

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"Wenn die AfD gegen Migranten hetzt, hetzt sie gegen uns", sagt Liberova. Sie hält die Partei, die auf Wahlplakaten gern "null Toleranz
für Antisemiten" fordert, für antisemitisch. "Die AfD legt immer mehr ihr Mäntelchen ab und zeigt ein geschichtsrevisionistisches Bild. Die Partei ist ein Sammelbecken für Neonazis und Rechtsradikale", ergänzt IKG-Vorsitzender Hamburger.

In den Tagen nach dem Anschlag von Halle kontrollierte die Polizei genau, wer sich der jüdischen Kita näherte, in die Liberovas zwei Jahre alter Sohn geht. "Es war ein komisches Gefühl, ihn dort abzugeben", sagt die Mutter. Normalität sieht anders aus.

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