Der Ritter der Kokosnuss kommt aus Nürnberg

24.12.2009, 00:00 Uhr
Der Ritter der Kokosnuss kommt aus Nürnberg

© Felix Zeltner

«Wir leben hier permanent nackt«, steht da schwungvoll mit schwarzer Tinte geschrieben und mit fünf Pfennig frankiert, «und genießen fast nur Früchte, vor allem die heilige Kokosnuss. Was sind Städte: Felsengrabanlagen, Friedhöfe des Glücks und Lebens, gegen mein palmengeschmücktes, ozeanumbraustes, sonnendurchglühtes Eiland?! Kabakon ist ein Paradies, das ich kaum je mehr verlassen werde. Wie hasse ich Kleider!« Es ist ein Neujahrsgruß von einer kleinen Insel im Bismarck-Archipel, abgeschickt an Heiligabend 1904. Der Absender ist ein Mann namens August Engelhardt.

Er sucht das Extreme

Dieter Klein hat noch nie von ihm gehört. Er ist Grundschullehrer, er will es jetzt genau wissen. Dutzende Aktionen klappert er ab, schreibt Briefe an Professoren, reist schließlich auf den Bismarck-Archipel - immer in der Hoffnung auf neue Post von August Engelhardt. Was der heute 66-jährige Sammler nach und nach zusammenträgt, ist nicht weniger als die Geschichte des wohl ersten deutschen Hippies.

August Engelhardt wird 1877 in das noch junge Deutsche Reich unter Bismarck hineingeboren. Er wächst in Nürnberg auf, es ist die Zeit der Industrialisierung. Engelhardt rebelliert. Er schließt sich dem «Vegetarischen Verein« in seiner Heimatstadt an und besucht das Nudisten-Sanatorium «Jungborn« im Harz. Rohkost, Heilfasten und zurück zur Natur sind in Mode, aber Engelhardt sucht das Extreme. Während einer Ausbildung zum Apotheker entdeckt er eine neue Philosophie aus den USA, den sogenannten Kokovorismus. Das Konzept ist bestechend einfach: Kokosnuss essen, Kokosmilch trinken, Erleuchtung finden.

«Europavergiftung«

Engelhardt und sein Freund, der Schriftsteller August Bethmann, begeistern sich dafür. Gemeinsam schreiben sie ein Buch, sie nennen es das «Neue Evangelium«. Es wird fünfmal aufgelegt und sogar in den USA veröffentlicht werden. «Der Kokovore empfängt alles direkt aus den Händen seines Gottes, der gutherzigen Sonne«, schreiben die beiden. Die Kokosnuss sei die Frucht, die diesem Gott am nächsten stehe, «der Stein der Weisen«.

1902 macht Engelhardt Ernst. Er hat von der Südsee gehört, jenem fernen Teil der Erde, aus dem deutsche Kolonial-Gesandte von exotischen Schönheiten und palmengesäumten Sandstränden berichten. Ein Paradies für die im kalten Deutschland zurückgebliebenen, von Abgasen aus Fabrikschloten eingenebelten Bürger. «Europavergiftung«, schreibt Engelhardt später, «der Name unseres schweren, tiefen Leidens!« Im Juli 1902 geht der 24-Jährige an Bord eines Reichspostdampfers. Acht Wochen später betritt er auf der anderen Seite der Erde erneut deutschen Boden. Erst kurz zuvor hatten die Lobbyisten der Handelsgesellschaft Neuguinea-Kompagnie Bismarck das Zugeständnis abgerungen, ihr Revier in eine deutsche Kolonie umzuwandeln. Den Archipel im Norden von Papua-Neuguinea benennen sie nach ihrem Reichskanzler. Viele der Inseln bekommen preußische Namen wie Neu-Pommern und Neu-Mecklenburg, die Hauptstadt heißt jetzt Herbertshöhe. Hier, wo auch Gouverneur und Kolonialverwaltung ihren Sitz haben, beginnt Engelhardt die Suche nach einem neuen Zuhause.

Kommunistische Kommune

Schon drei Tage nach seiner Ankunft schlägt er zu: «Seit 15.9. habe ich die Koralleninsel Kabakon, die zugleich eine Kokospalmen- und Bananenplantage ist, gekauft, seit 2.10. lebe ich da selbst. Sie ist die südwestlichste Insel der Neu-Lauenburggruppe, nördlich Herbertshöhe«, schreibt Engelhardt seinen «lieben Verwandten«, dem Ehepaar Soergel in Roth bei Nürnberg. «Die nächsten 2-3 Jahre werde ich nicht heimkommen.« Das Land kauft er der deutsch-samoanischen Geschäftsfrau «Queen Emma« Forsayth ab, deren Firma damals fast alles Land der Gegend besitzt. Woher Engelhardt über das nötige Kapital verfügt, bleibt unklar.

Für den Traum des jungen Nürnbergers bietet das etwa 20 Kilometer vor der Küste gelegene Kabakon ideale Voraussetzungen. Die Firma Forsayth betreibt dort bereits seit über 20 Jahren eine Plantage und hat auf der etwa einen Kilometer langen und 700 Meter breiten Insel gut gepflegte Kokospalmen aufgezogen. Ein Bootssteg ist angelegt, dazu gibt es eine Hütte, in der das Kokosfleisch Kopra getrocknet wird, um daraus das begehrte Öl zu gewinnen. Mit dem Öl will Engelhardt seine Fantasie vom «Sonnenorden« finanzieren, einer kommunistischen Kokos-Kommune.

Zunächst ist er einsam

Doch zunächst ist er einsam. Seine einzige Gesellschaft sind 40 melanesische Arbeiter, die die Plantage bewirtschaften, aber deren Sprache Engelhardt nicht spricht, seine einzige Zerstreuung die Bücher, die er von zu Hause mitgebracht hat und für die er einen kleinen Holzschuppen errichtet. «Um 5 Uhr 30 ruft mich meine Glocke. Da heißt’s: Auf! Die Arbeiter treten an. Die Arbeit wird verteilt. Und ich? Ich richte mich zum Schreiben. - Kommt Freunde!«, ruft Engelhardt per Brief nach Deutschland, «erlöst den Einsamen vom Schreiben durch Eurer Zungen trauten Ton!«

Ein Jahr muss Engelhardt warten, dann schickt ihm sein alter Freund August Bethmann den ersten Jünger. Es ist ein junger Helgoländer, der nach nur sechs Wochen auf der Insel stirbt. Wie so viele Europäer hat er sich bei seiner Ankunft in «Deutschlands Fieberkolonie« mit Malaria infiziert. Es ist ein grausiger Vorbote für das, was kommen wird, aber Engelhardt lockt ungeniert weiter. «Komm, edler Freund! Du bist zu gut für Berlin!«, umgarnt er einen befreundeten Arzt, «gefällt’s Dir, dann rechnest Du ab mit Europa und bleibst für immer in unserem Eden.«

Im Wickelrock vor der Palme

Statt des Arztes kommt schließlich ein Prominenter: Max Lützow, zu dieser Zeit ein bekannter Kapellmeister, Geiger und Pianist. Auf einer Europatournee hatte Lützow einen Zusammenbruch erlitten. Zur Genesung in einem deutschen Krankenhaus bekommt er das «Neue Evangelium« in die Hände. Er bricht sofort auf und erreicht Kabakon im Sommer 1904.

Eine Postkarte mit den beiden braungebrannten Männern, wie sie nur mit Wickelrock bekleidet vor einer Palme posieren, findet Verbreitung in ganz Deutschland. Lützow schreibt begeisterte Rundbriefe nach Hause, einer davon erscheint in der Leipziger Zeitschrift «Vegetarische Warte«: «Weißer Korallensand, märchenhaft schöne Meerbäder und Bootsfahrten auf flacher See; abends berückendes Schauspiel des Meeresleuchtens«, frohlockt der Virtuose.

«Sie waren die ersten deutschen Hippies«

Lützows Schwärmereien lösen eine «Boom-Periode« des Sonnenordens aus, wie Sven Mönter von der University of Auckland in seiner kürzlich veröffentlichten Arbeit über Engelhardt schreibt. Bis zu 30 Anhänger habe der Orden in der Folgezeit gehabt. Sie alle wollen den Traum der Südsee-Kommune leben: Nacktheit und freie Liebe, essen, was auf den Bäumen wächst und philosophieren im Schatten der Palmen. Ein Foto von damals wirkt wie aus den späten 1960er Jahren: Zwei Männer mit langen Haarmähnen und wuchernden Bärten, eine Frau mit Stirnband und wallendem Kleid.

«Sie waren die ersten deutschen Hippies«, sagt Professor Hermann Hiery, Spezialist für deutsche Kolonialgeschichte an der Universität Bayreuth. Er hat Engelhardt in seinem Standardwerk ein ganzes Kapitel gewidmet – geschrieben vom Wuppertaler Briefmarkensammler Dieter Klein. Auch der deutsch-neuseeländische Forscher Mönter kommt zu diesem Schluss. Wie die Hippies ein halbes Jahrhundert später habe Engelhardt einen neuen Lebensstil gesucht und gefunden, «als Rebellion gegen die herrschenden Werte und Erwartungen der Gesellschaft«. Dennoch sei Engelhardts Kommune heute völlig in Vergessenheit geraten.

Kommune ist verschwunden

«Hier kennen alle die Geschichte vom Nudisten-Camp, weil sie von Generation zu Generation weitergegeben wird«, sagt Harry Hörler und lächelt verschmitzt. Es ist Mai 2009, der 66-Jährige sitzt unter seinem auf Stelzen gebauten Holzhaus und serviert kühle Fanta. Hörler ist einer der ältesten und ranghöchsten Bewohner auf Kerawara, der Nachbarinsel von Kabakon. Er und seine knapp 400 Mitbewohner sind heute die rechtmäßigen Besitzer von August Engelhardts einstigem Reich nebenan. «Die Insel hat jahrelang einer australischen Firma gehört. Als Papua-Neuguinea 1975 unabhängig wurde, haben wir sie mit Unterstützung der Regierung gekauft«, erzählt Hörler. Obwohl die Inseln nah beieinander liegen, ist Kabakon heute unbewohnt.

Von der Kommune ist nichts übrig geblieben, Bibliothek und Kopra-Lager sind verschwunden. Dem tropischen Klima mit 30 Grad im Schatten und hoher Luftfeuchtigkeit hielten die Holzbauten nicht lange stand - ähnlich erging es ihren Bewohnern.

Macht völlig entkräftet sein Testament

Malaria und Mangelernährung machen den unvorbereitet angereisten Deutschen bald schwer zu schaffen. Innerhalb weniger Jahre sterben fünf Jünger des Sonnenordens, andere schaffen es gerade noch ins Krankenhaus am Festland. Dazu kommen Eifersüchteleien. «Die Gruppe ist auch aufgrund der polygamen Struktur auseinandergefallen«, sagt Historiker Hiery. «Unter den ungeklärten Todesfällen war mindestens ein Mord.«

Engelhardt verfasst 1906 völlig entkräftet sein Testament und schickt es ans Kolonialgericht in Herbertshöhe. Der Gründer des Sonnenordens sehe böse aus, schreibt sein letzter Mitstreiter Wilhelm Bradtke an die «Vegetarischen Warte«: «Abgemagert mit großen Beinwunden, Gicht in den Fingern, Ausschlag an Armen und am Gesäß, Fieberanfälle in dreitägigem Turnus.« Er habe nach vier Wochen dasselbe bekommen, so Bradtke weiter, verursacht durch Moskitos, Sandflöhe und die «viele Nussesserei«. Die Kokosplantage sei verlottert.

Der Weg zur Erlösung

In letzter Verzweiflung startet Engelhardt 1908 die Zeitschrift «Für Sonne, Tropen u. Kokosnuss«. «Erster Apostel der Kokospalme« nennt er sich darin und verkündet den Kokovorismus als «Weg zur vollen Erlösung von Schmerz, Leid und Tod«. Er selbst kann seine Maxime, nur Kokosnüsse zu verzehren, längst nicht mehr einhalten. Vor 100 Jahren ist dann endgültig Schluss mit der fränkischen Kommune. «Engelhardt hat sich 1909 vom Sonnenorden verabschiedet«, sagt Mönter. Von nun an habe er sich als Schriftsteller und Botaniker gesehen. Korrespondenz aus dieser Zeit ist rar, der Apostel hat das aggressive Anwerben neuer Jünger aufgegeben.

Am Ende kommen Touristen. Engelhardt erlangt dank seiner Zeitung eine gewisse Berühmtheit, und der beginnende Kreuzfahrt-Tourismus bringt ab 1910 neugierige Menschen nach Kabakon. Auch der Maler Emil Nolde schildert eine Begegnung mit dem Kokos-Apostel. Der abgemagerte Engelhardt, gerade Anfang dreißig, gibt Autogramme und posiert für Fotos. Er ist zu einer schaurigen Touristenattraktion verkommen.

Australier internieren ihn

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, wird Engelhardt von den Australiern interniert. Der schwerkranke Mann überlebt die Haft und darf unter australischer Aufsicht noch vor Kriegsende gemeinsam mit Bradtke ein letztes Mal auf sein geliebtes Kabakon zurück. Beide sterben kurz nacheinander im Mai 1919. Während Bradtkes Grabstein heute auf dem deutschen Friedhof in Kokopo, ehemals Herbertshöhe, zu finden ist, sind sich die Historiker bei Engelhardt nicht sicher. Harry Hörler schon. «Er liegt auf Kabakon begraben. Der Bruder meiner Frau könnte uns die Stelle zeigen. Leider ist er gestorben. Ich hoffe aber, mit Hilfe der anderen Alten hier, das Grab noch zu finden.«