Nachkriegsarchitektur in Nürnberg

Erinnerungen aus der "Drachenburg": Das Frauenwohnheim an der Wöhrder Wiese

22.9.2021, 16:00 Uhr
1953 war der Ausblick von den Genossenschaftshäusern an der Flaschenhofstraße auf das neue Wohnheim noch ungehindert möglich. Dazwischen erstreckten sich zu dieser Zeit Kriegsbrachen.  

© Fritz Lauterbach (Sammlung Sebastian Gulden) 1953 war der Ausblick von den Genossenschaftshäusern an der Flaschenhofstraße auf das neue Wohnheim noch ungehindert möglich. Dazwischen erstreckten sich zu dieser Zeit Kriegsbrachen.  

"Wohnheim für berufstätige alleinstehende Frauen" – bei nicht wenigen wird diese Bezeichnung ungute Assoziationen mit einer klosterartigen Verwahranstalt wecken, deren Bewohnerinnen keinen Männerbesuch empfangen und auch sonst neben der Arbeit ein freudloses Leben im einsamen Kämmerlein führen.

Selbstbestimmtes Leben

Weit gefehlt! Die Karlsruher Fotografin Cordula Schulze hat sich in ihrem Blog jüngst mit solchen Wohnheimen beschäftigt. Sie existierten bereits in der Weimarer Republik, ihre größte Verbreitung aber fanden sie ab Ende der 1940er Jahre in Westdeutschland, wo sie bald in allen großen Städten zu finden waren.

Um das Wohnheim heute zu fotografieren, muss man näher ran und sieht entsprechend weniger. Dennoch: Der Original-1950er-Jahre-Bau strahlt noch wie eh und je.  

Um das Wohnheim heute zu fotografieren, muss man näher ran und sieht entsprechend weniger. Dennoch: Der Original-1950er-Jahre-Bau strahlt noch wie eh und je.   © Sebastian Gulden

Nachdem die Frauen in den ersten Nachkriegsjahren viele Arbeiten der im Krieg gefallenen, verwundeten oder vermissten männlichen Arbeitnehmer hatten übernehmen müssen, versuchte die Politik der Wirtschaftswunderzeit, sie wieder in die Rolle als Hausfrau und Mutter zurückzudrängen. Die Wohnheime halfen vielen Frauen, die sich mit dieser genderpolitischen "Rolle rückwärts" nicht zufriedengeben wollten, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen.

Schwimmen und plaudern

Sie fanden dort ein günstiges und gut ausgestattetes Zuhause, oftmals mit Gemeinschaftsräumen und Schwimmhalle. Dass einige Zeitgenossen die Heime spöttelnd als "Drachenburgen" bezeichneten, sagt eher etwas über die reaktionäre Geisteshaltung von Teilen der Gesellschaft aus als über das Wesen ihrer Bewohnerinnen. Auch in Nürnberg gab und gibt es solche Wohnheime, die seit 1930 von einem eigenen Verein – dem ältesten seiner Art in Deutschland überhaupt – getragen werden.

Diese Aufnahme von 1953 fängt den Reiz der Hoffassade mit dem regelmäßigen Nebeneinander von Fensterachsen und keck vorspringenden Balkonen mit ihrem Schattenwurf ein.  

Diese Aufnahme von 1953 fängt den Reiz der Hoffassade mit dem regelmäßigen Nebeneinander von Fensterachsen und keck vorspringenden Balkonen mit ihrem Schattenwurf ein.   © unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)

Zu den bekanntesten gehören der "Alfasgarten" in der Pirckheimerstraße 22/24 (1930, nach Kriegsschaden neu erbaut 1949–1950), das Wohnheim an der Wöhrder Wiese in der Reindelstraße 5/7 (1953) und das "Sonnenwohnheim" in der Hufelandstraße 54 (1955–1957). Sie alle stammen vom Reißbrett des Architekten Wilhelm Schlegtendal, der wie kaum ein anderer Architekt das bauliche Antlitz des Nachkriegs-Nürnberg geprägt hat. Das Wohnheim an der Wöhrder Wiese wollen wir uns einmal genauer ansehen.

Früher sozialer Wohnungsbau

Schon 1898 diente das Grundstück zwischen Flaschenhof und Wöhrder Wiese dem sozialen Wohnbau: Trägerin des Projektes war die 1855 durch König Maximilian II. gegründete "Königshausstiftung", die einkommensschwachen Familien günstigen Wohnraum auf genossenschaftlicher Basis bereitstellen sollte. Die beiden in Zeilenbauweise angeordneten Doppelhäuser enthielten jeweils 18 einfache, aber moderne und helle Wohnungen mit Küche und Wasserklosett.

Die einfachen, langgestreckten Sandsteinbauten besaßen eine für Sozialbauten auffallend reiche Gestaltung der Fassaden im Nürnberger Stil nach Planung des städtischen Ingenieurs Georg Kuch: Neben reich geschwungenen Giebeln lockerten Zwerchhäuser und zwei polygonale Erkertürme mit Zeltdächern die beiden Blöcke auf. Von ihnen blieb nach den verheerenden Zerstörungen, die die Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges besonders in der Marienvorstadt anrichteten, nichts erhalten.

In eleganten Formen geplant

Und so ging der Trümmergrund, der sich im Eigentum der Stadt Nürnberg befand, 1952 in Erbbaurecht an den Verein Wohnheim für berufstätige Frauen. Auch für den Neubau wählte Architekt Schlegtendal 1953 eine einfache, aber wirkungsvolle Grundform: An das siebengeschossige Hauptgebäude setzte er im Nordwesten einen dreigeschossigen Nebenflügel an, beide abgeschlossen durch flache, überstehende Flugdächer, deren Schattenwurf die Fassaden belebt und vor dem Wetter schützt.

Zusammen umfrieden die beiden Bauteile einen reizvollen, mit Laubbäumen bepflanzten Gartenhof. An den Fassaden kontrastieren verputzte und terrakottafarben gefasste Flächen mit dem transparenten Treppenhausschacht und den Fronten der Wohnbereiche.

Hier wechseln sich in regelmäßiger Folge schmale Achsen mit Stahlbetonrahmen, Panoramafenstern und verputztem Mauerwerk sowie keck vorspringende, asymmetrische Balkone und zurückgesetzte Loggien mit Geländern aus filigranen Holzlatten ab.

Klein, aber fein! So sah ein Einzimmer-Apartment im Wohnheim an der Wöhrder Wiese im Jahre 1953 im Grundriss aus. Die Möbel wurden mitvermietet.  

Klein, aber fein! So sah ein Einzimmer-Apartment im Wohnheim an der Wöhrder Wiese im Jahre 1953 im Grundriss aus. Die Möbel wurden mitvermietet.   © Zeichnung Büro Schlegtendal (Sammlung Sebastian Gulden)

Diese Gestaltung war für die Redaktion der Zeitschrift "Bauwelt", die das Wohnheim 1955 der Fachwelt vorstellte, Beweis dafür, dass moderne Rasterfassaden mitnichten öde und eintönig aussehen mussten. In jedem Falle widerlegte die leichtfüßige, luzide Architektur die sexistische Mär von der abweisenden und freudlosen "Drachenburg".

Mit Einbaumöbeln vermietet

Hinter den Fassaden verbargen sich 110 Ein- und Zweizimmer-Apartments, die neben einem Freisitz schon zur Bauzeit mit Küche, praktischen skandinavischen Einbaumöbeln, WC und Duschbad oder zumindest einem Waschtisch ausgestattet waren. Wer 1953 eine Bleibe im Haus bekam, entschied ob der enormen Nachfrage das Los.

Ein Original von 1953 ist die Beschriftung aus Bronzelettern an der Gartenmauer in zeittypischer Schwungschrift.  

Ein Original von 1953 ist die Beschriftung aus Bronzelettern an der Gartenmauer in zeittypischer Schwungschrift.   © Sebastian Gulden

Heute sind die Wohnungen freilich modernisiert, und nur wenige Mieterinnen werden sich noch an Teilen des schicken Mobiliars von einst erfreuen dürfen. Dennoch haben sich wesentliche Teile der originalen Gestaltung der Wirtschaftswunderzeit erhalten, und das so gut, dass das Wohnheim an der Wöhrder Wiese heute auf der Bayerischen Denkmalliste verzeichnet ist.

Heute ganz im Grünen

Schön ist auch, wie die Natur den Komplex förmlich umschlossen hat. So dicht und hoch sind die Bäume rundum bis heute gewachsen, dass man die Anlage nur schwerlich mit der Kamera einfangen kann. Wollen wir hoffen, dass dieser Ort noch lange bestehen wird – als Institution und als Zeugnis der Nürnberger Nachkriegsarchitektur.

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