Hartz IV: «Ich fühle mich wie der letzte Dreck»

17.1.2007, 00:00 Uhr
Hartz IV: «Ich fühle mich wie der letzte Dreck»

© Weigert

Hans-Jürgen Graf liegt schwer atmend auf seinem Sofa. Die Augen halb geschlossen, stützt er mit der linken Hand leicht den Kopf. Der 42-Jährige hat Schmerzen, er kann nicht lange sitzen - eine dreiviertel Stunde am Stück, vier Stunden am Tag maximal. Mehr geht einfach nicht. Dennoch, Hans-Jürgen Graf will arbeiten. Mit seiner Osteoporose und Arthrose ist er zu 70 Prozent behindert. Für ihn ist es schwierig, anscheinend unmöglich, einen Job zu finden.

Graf lebt von Hartz IV - das, so seine Überzeugung, die Menschenrechte verletzt. In einer Beschwerde an den Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, prangert er die deutsche Sozialgesetzgebung an. Detailliert listet der 42-Jährige Beispiele auf, zitiert aus verschiedenen Gesetzen oder Politiker-Reden. Graf hat sich mit der Thematik eingehend beschäftigt, das wird schnell klar. Denn: «Wenn man sich nicht informiert, wird man über den Tisch gezogen.»

1983 begann Graf eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Rückenprobleme machten die Tätigkeit spätestens 1999 unmöglich, die Ämter verweigerten eine Umschulung im sozialen Bereich. Begründung: «Da gibt es keine Stellen». Also drückte er für zwei Jahre die Schulbank, lernte Bürokaufmann und schloss mit sehr guter Beurteilung ab. In den folgenden vier Jahren verschickte Graf 400 Bewerbungen «in jeglicher Richtung». Es folgten 400 Absagen. Viele der Anschreiben wurden nur umfrankiert, manche nie beantwortet. «Ich fühle mich wie der letzte Dreck», klagt Graf, «als ob ich überflüssig wäre». Jetzt hat er einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt, Vollzeit wird er auf Grund seiner chronischen Schmerzen nicht mehr arbeiten können. Doch trotz ärztlicher Gutachten scheint der Antrag zu scheitern.

Internetforen gegen den Frust

Im Internet findet der Arbeitslose Leidensgenossen. In Foren tauschen sie sich über ihre Probleme aus, bilden Interessensgemeinschaften und wollen für ein besseres Leben kämpfen. Seiner Petition an die EU haben sich bereits 60 weitere Hartz-IV-Empfänger angeschlossen. Ihre Chancen? Graf zuckt mit den Achseln, rückt seine Brille gerade. Er weiß es nicht, hofft aber. Wenn der Menschenrechtskommissar die Bundesrepublik öffentlich rügen würde, das wäre schon was. Graf will Aufmerksamkeit, hofft, «dass noch andere aufwachen».

Wie manche Leute Briefmarken, so sammelt der 42-Jährige Fälle, die die Ungerechtigkeit der Gesetzgebung belegen sollen. Sein Hauptziel: Die Argen (Arbeitsgemeinschaften), die zuständig sind für hilfsbedürftige Erwerbsfähige.

Grafs Vorwürfe sind massiv. Arge-Mitarbeiter würden ihren «Kunden» Eingliederungsvereinbarungen vorlegen und mit drohenden Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent die Unterschrift «erpressen». Weiterer Vorwurf: «Es wurde sich widerrechtlich Zugang zu Wohnungen verschafft. Gilt für uns Arbeitslose nicht mehr das Recht auf Wohnung», fragt Graf.

Claus-Dieter Rückel, Geschäftsführer der Arge Nürnberg, weist die Anschuldigungen von sich. «Ich habe noch nie erlebt, dass wir uns ohne Erlaubnis Zutritt zu einer Wohnung verschafft haben», betont Rückel. Auch dass Unterschriften erzwungen würden, nein, das kann er sich nicht vorstellen. «Wir arbeiten nach dem Motto ,partnerschaftliche Kooperation‘», so der Chef der Nürnberger Arge. Eine Eingliederungsvereinbarung sei freiwillig, keiner werde unter Druck gesetzt.

Graf und Rückel haben zwei völlig unterschiedliche Blickwinkel auf die Problematik. So prangert der Arbeitslose an, dass Erwerbsuchende ständig von der Arge erreichbar sein müssen. Für ihn ein Verstoß gegen das in Artikel 11 Grundgesetz garantierte Recht auf Freizügigkeit: «Es entsteht der Eindruck, dass ein lanzeitarbeitsloser Mensch einem Straftäter gleichgestellt wird», empört er sich. Rückel argumentiert völlig anders: «Wie bei einer Firma sind unsere Kunden bei uns ,angestellt‘. Unter der Woche müssen sie per Post erreichbar sein.» erklärt er. «Und wenn sie wegfahren eben auch Urlaub nehmen.»

Brief an Bundespräsidenten

Doch Graf ist mit seiner Wut und seinem Frust nicht allein. «Die Arbeitsgemeinschaften vergessen gerne die Situationen der Menschen», ärgert sich der Nürnberger Thomas Müller, auch Hartz-IV-Empfänger. Er wandte sich mit einem offenen Brief im Namen der «neuen Kaste der Entrechteten» an Bundespräsident Horst Köhler und forderte ihn auf, gegen das Alg II Stellung zu beziehen. Bisher kam keine Antwort.

Auch nicht auf Grafs Petition an den Menschenrechtskommissar. Doch er will nicht aufgeben. «Das menschenunwürdige Tun muss sich ändern», fordert der 42-Jährige. Er fühlt sich nicht als Anwalt der Alg-II-Empfänger, «eher als einer der ausspricht, dass im System etwas falsch ist». Als nächstes will er sogar vor den Europäischen Menschengerichtshof ziehen. Im nächsten Monat soll dort eine Klage gegen Hartz IV eingereicht werden.