,Märchen dienen der Selbstfindung‘

7.8.2010, 00:00 Uhr
,Märchen dienen der Selbstfindung‘

© Zimmermann

Frau Gonze, Sie sind seit zwölf Jahren Märchenerzählerin. Gibt es Menschen, die an Ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln?

Andrea Gonze (lacht): Nein, eigentlich nicht. Vielen Leuten fällt es zwar schwer zu glauben, dass ich von Montag bis Sonntag Geschichten erzähle und davon lebe, aber meine Glaubwürdigkeit leidet zum Glück nicht darunter. Ich erzähle privat auch gar nicht so viel, vor allem keine Märchen, es sei denn, jemand wünscht es sich ausdrücklich.

Und wie halten Sie es privat mit der Wahrheit?

Gonze: Da habe ich Glück. Ich habe weder einen Chef, der mich unter Druck setzt, noch muss ich in der Familie flunkern. Mein Mann, meine zwei Kinder und ich, wir machen alle unser Ding. Da muss niemand lügen. Ich finde Notlügen aber auch nicht schlimm. In der Regel tun sie niemandem weh, im Gegenteil. Die Wahrheit dagegen kann manchmal recht schmerzhaft sein und ist deshalb nicht ganz ungefährlich.

Wo lauert sie Ihrer Meinung denn, die Bestie in der Wahrheit?

Gonze: Im schlechten Timing und in unschöner Verpackung. Wenn wir möchten, dass jemand eine Wahrheit annehmen kann, dann müssen wir sie zum richtigen Zeitpunkt anbringen und so verpacken, dass sie als konstruktive, wohlwollende Kritik daherkommt. Märchen funktionieren im Prinzip genauso.

Wie meinen Sie das? Sind Märchen demnach Wahrheiten, gehüllt in prachtvolle Gewänder?

Gonze: Im Grunde ja. Jedes Märchen hat einen wahren Kern. In 90 Prozent aller Märchen geht es doch um Selbstfindung. Darum, mit sich im Einklang zu sein, rund zu werden. Das Ying-Yang des Lebens, wenn Sie so wollen. Der Prinz, der die Prinzessin heiratet und dann mit ihr gemeinsam das einzige Königreich regiert. Der Dummling, der nie etwas auf die Reihe kriegt und dann doch den großen Wurf landet. Das alles sind Symbole, die auf die Ganzwerdung eines jeden Menschen hindeuten. Darauf, dass wir alle verschiedene Komponenten benötigen, um mit uns selbst im Gleichgewicht zu sein.

Das müssen Sie mir jetzt mal genauer erklären...

Gonze: Märchen sind dazu da, um uns Mut zu machen. Jeder hat im Leben Prüfungen zu bestehen und wird dabei auch mal zurückgeworfen. Jeder fühlt sich von Zeit zu Zeit wie der Dummling, obwohl ihn andere vielleicht nicht so wahrnehmen.

Irgendwie ist mir immer noch nicht ganz klar, inwieweit Märchen zur Selbstfindung beitragen.

Gonze: Ich gebe Ihnen noch ein paar Beispiele. Der tiefe Brunnen im Märchen symbolisiert etwa die eigenen Abgründe und enthält die Aufforderung, sich mit den Tiefen der eigenen Seele auseinanderzusetzen. Der tiefe dunkle Wald ist die Notwendigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ein guter Platz für die Beschäftigung mit der eigenen Person, die doch so wichtig ist, um wahrhaftig und authentisch zu werden, sich selbst anzunehmen, so wie man ist. Die Zuhörer wissen intuitiv um die Symbolik der Märchen, denn sie werden von ihr tief berührt. Schließlich geht es in Märchen immer um Lebenswege. Deshalb ist diese Form der Geschichte ja auch so beliebt. Märchen sind für das Volk geschrieben worden. Wenn ein Mensch in einer bestimmten Lebenssituation steckt und das passende Märchen hört, kann es ihm helfen, den entscheidenden Schritt zu machen.

Welche Rolle spielt dabei der Erzähler?

Gonze: Der Erzähler muss authentisch sein. Wenn du nicht echt bist, folgen die Zuschauer nicht der Geschichte, sondern achten auf Äußerlichkeiten. Ich bilde selbst Märchenerzähler aus; meinen Schülern versuche ich zu vermitteln, wie wichtig es ist, sich beim Erzählen komplett zu öffnen. Jede Geschichte, die ich erzähle, ist für mich ein Geschenk an das Publikum. Und je nachdem, wo die Menschen in ihrem Leben gerade stehen, holen sie sich aus den Märchen ihre eigene Wahrheit heraus.