Mit Gefühl ins Gedächtnis

31.7.2020, 18:29 Uhr
Max Liedtke spielt auf seiner Fidel ein Lied.

© Foto: Michael Matejka Max Liedtke spielt auf seiner Fidel ein Lied.

"Ah, der Professor“, sagt die Frau, die ihren Rollator langsam durch die Cafeteria schiebt. „Spielen Sie morgen wieder für uns?“ Max Liedtke schaut die Bewohnerin des Karl-Heller-Stifts über seine randlose Brille an und lächelt sanft. Ja, er wird wieder da sein. Mit seiner Fidel, die er sich auch dann zwischen die Knie klemmt. Mit dem Instrument spielt der 89-Jährige zahlreiche Lieder — am liebsten mit den Menschen im Alten- und Pflegeheim.

Bewohner lauschen auf dem Balkon

Das aber ist im Moment nicht wie üblich möglich. Monatelang hat Max Liedtke das Karl-Heller-Stift infolge von Corona nicht besuchen können. Erst seit kurzem ist er wieder hier, dienstags sitzt er im lauschigen Garten des Heims in Röthenbach an der Pegnitz. Dann hocken die Bewohner des Stifts an ihren Fenstern und auf ihren Balkonen, um ihm zuzuhören. „Wir werden wieder da sein“, freut sich auch die ältere Frau, die Max Liedtke erkannt hat.

Genau das zeigt dem 89-Jährigen, dass sie nicht zu den Bewohnern gehört, mit denen Liedtke seit 2002 eigentlich Musik macht. Die erkennen ihn nicht. Sie leiden an Demenz. Ihr Kurzzeitgedächtnis haben die Teilnehmer seiner Gruppe schon länger verloren. Doch wie viele Erinnerungen in ihnen schlummern, erfährt er in der von ihm gegründeten Runde „Singen und Musizieren mit Menschen mit Demenz“ laufend.


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Inzwischen kennt Liedtke von jedem Teilnehmer mindestens ein Lied, das einen besonderen Platz in der Vergangenheit hat. Spielt er das Stück auf Fidel, Mundharmonika oder Glockenspiel, sieht er, wie die Erinnerung geweckt wird. Und er kann es hören. Die Teilnehmer singen mit, textsicher, andere lachen oder wackeln mit den Füßen.

Erinnerungen immer mit Emotionen

Sie tun das, weil Max Liedtke mit der Musik nicht ihr Gedächtnis anspricht. Sondern ihr Herz. „Wenn wir etwas wahrnehmen, dann immer mit einer Emotion. Und diese Emotionen holen wir hervor“, sagt der Professor

So nennen Liedtke hier viele. Aus gutem Grund. Der gebürtige Düsseldorfer hat erst Theologie, später Pädagogik, Philosophie und Musikwissenschaften studiert. Danach habilitiert er 1970 in Hamburg. Drei Jahre später wechselt er an den Lehrstuhl für Pädagogik der Universität Erlangen-Nürnberg. Noch Jahre nachdem er 1999 emeritiert wurde, hilft er in seinem Fachbereich aus, nimmt zum Beispiel Prüfungen ab.

Gastspieler immer willkommen

Die schwerste Prüfung aber ereilt Max Liedtke zu Hause. Seine Frau leidet an Frühdemenz. Die Krankheit schreitet schnell voran. Sie vergisst alltägliche Dinge, findet sich schlechter zurecht. „Schon der Weg zur Toilette war für sie schwer.“ Er experimentiert, wie trotzdem Kommunikation mit seiner Frau möglich ist, und findet zur Musik. „Meine Frau konnte Texte von mehreren hundert Liedern auswendig und sie hatte sie noch im Kopf.“ Die Melodien locken sie hervor. Mit Fidel und gemeinsamem Gesang erreicht er seine Frau.

Und nicht nur sie. Max Liedtke ist jeden Tag in der Abteilung für Schwerdemenzkranke. Er spielt, beide singen. „Dann haben sich andere Bewohner zu uns gesetzt und mitgemacht.“ Nach und nach begreift Max Liedtke die Wirkung der Musik. „Ich kann mich durch das gemeinsame Musizieren mit ihnen austauschen“, sagt Liedtke. Schnell wird er im Karl-Heller-Stift zu einer Institution.

Der Professor singt und spielt aber nicht allein, immer wieder sind Menschen zu Besuch, die ihn unterstützen, mal ist es Schauspieler Herbert Kromann, dann Röthenbachs Bürgermeister Klaus Hacker. Oder Angehörige der rund zwanzig Demenzkranken. Meistens helfen aber Lehrer und Lehrerinnen.

Ein Höhepunkt ist der Auftritt des Windsbacher Knabenchors, der von den Liedtkes schon lange unterstützt wird. Das kulturelle Angebot in Hamburg vermisst das Paar nach seinem Umzug in den Siebzigern, die Windsbacher aber lassen sie das bald vergessen. Max Liedtke sitzt später im Stiftungsbeirat des Chors.

Spielchen und bekannte Melodien

2006 stirbt seine Frau. Mit ihr geht Liedtkes Grund, das Pflegeheim zu besuchen. Doch nur kurze Zeit später ist er zurück. Das Pflegepersonal bittet den Professor, weiter zu spielen. Max Liedtke aber macht viel mehr als das. Er überlegt sich Bewegungsspielchen, erfindet Texte zu bekannten Melodien, die dann erraten werden müssen. „Es gaben auch die Kü-ü-he, beim Singen sich viel...?“ Mü-ü-he antwortet die Gruppe.

Max Liedtke stellt gerne Fragen. Sie sind der Grund, weshalb er in jungen Jahren das Theologie-Studium beendet und mit der Kirche bricht. „Man hörte zu früh mit dem Fragen auf. Die Fragen sind die Antwort.“ Das ist für ihn Wissenschaft. Im Alter wird er selbst zu einem Stück Antwort — auf die Probleme der Demenzkranken. Er versteht sie. Und an diesem einen Tag in der Woche unter den Bewohnern des Pflegeheims „fühle ich mich wohl, hier bin ich richtig“, sagt der frühere Dekan der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät. „Weil, das kann ich gut.“

Am Ende ist er immer glücklich

So gut, dass Max Liedtke auch in anderen Pflegeheimen singt und musiziert, genauso an Sommerfesten und Geburtstagsfeiern. Viele Lieder hat der 89-Jährige dabei gelernt, „sehr viele Schlager“, sagt Liedtke und muss lachen. Alles, worauf sein Gegenüber reagiert. „Denn Erinnerung kommt nicht durch ein bloßes Wort, sondern durch Emotionen.“

Oft, sagt Liedtke, werde er gefragt, ob die Arbeit mit Demenzkranken nicht auch traurig stimmt. Der Professor aber schüttelt den Kopf. „Wenn ich hier rausgehe, bin ich jedes Mal richtig glücklich.“ Wie die Menschen, mit denen er musiziert. Auch wenn sie sich danach nicht mehr daran erinnern.

Mehr Infos auf der Homepage von Max Liedtke

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