Mit Trotz, Kraft und Köpfchen

1.6.2020, 19:00 Uhr
Mit Trotz, Kraft und Köpfchen

© Foto: Stefan Hippel

Eine Erzieherin merkt, dass Leon manchmal nicht reagiert, wenn sie nach ihm ruft. Vor allem, wenn der Dreijährige sie nicht im Blick hat. Andrea Grätz ist überrascht. Obwohl sie schon bemerkt hat, dass ihr Sohn nicht so flüssig spricht wie andere Kinder in seinem Alter, "aber mir wurde das als junges Mädchen auch mal gesagt".

Grätz folgt dem Rat der Erzieherin und geht zum Arzt. Der erste vermittelt sie weiter, der zweite erkennt keine Probleme. "Beim dritten war ein Gerät kaputt", erinnnert sich Grätz, lacht und schüttelt den Kopf. Eineinhalb Jahre vergehen, bis sie endlich eine Diagnose bekommt: Ihr Sohn ist hörgeschädigt.

"Plötzlich war alles anders"

"In der Zwischenzeit sind wir mit Logopädie und musikalischer Früherziehung schon aktiv geworden, aber plötzlich war alles anders." Sie erfährt, dass ihr Sohn eine Behinderung hat, als ihr zweites Kind zur Welt kommt. Sie erinnert sich an die erste Geburt zurück. Der Arzt hatte Leons Gehör untersucht. Damals sei das Neugeborenen-Hörscreening erst eingeführt worden. "Ihm war etwas aufgefallen, beim zweiten Test war dann angeblich alles in Ordnung."

Diesmal will sie es genau wissen. Bei ihrer Tochter wird sofort eine Hörschädigung festgestellt. "Seitdem machen wir gleich alles im Doppelpack, beim Arzt und beim Akustiker", sagt Grätz und lacht wieder. Darin steckt eine Portion Sarkasmus, aber auch Trotz und Kraft. Wegen zweier gehandicapter Kinder steckt die Frau den Kopf mit der rotblonden Kurzhaarfrisur und der chicen Brille nicht in den Sand, sondern entwickelt Energie. Für ihre Familie.


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Die Informationen, die sie von offizieller Seite bekommt, sind ihr zu wenig. Ein paar Anlaufstellen für Fördermaßnahmen, ein paar Hinweise zu technischen Hilfen. "Da muss es mehr geben", sagt die Verwaltungsangestellte. Zwölf Jahre ist das her. Grätz erinnert sich an die Nächte in ihrem Haus in Tuchenbach vor dem Laptop. Sie recherchiert über Frühförderung und Einstiegshilfen in Kindergarten und Schule. Wenn sie bei Behörden nachhakt, wird ihr gesagt: "Sie haben aber komische Fragen."

Antworten erhält sie bei fOHRum in Erlangen. Die erste Sitzung bei der Selbsthilfegruppe für Familien mit hörgeschädigten Kindern in Mittelfranken ist wie eine Befreiung. "Die Teilnehmer konnten mir zu allen Fragen etwas sagen." Das Gefühl, "nicht alleine zu sein, Menschen zu treffen, die genau wissen, wovon ich spreche", macht die heute 43-Jährige glücklich.

Am Anfang ist man hilflos

Vielleicht ist es Schicksal, dass Grätz’ erstes Treffen auch das letzte der Gründerin von fOHRum ist. Neue Engagierte werden gesucht. Grätz bringt sich viel ein. Über die Gruppe kommt sie zum Bayerischen Cochlea-Implantat-Verband (BayCIV). Sie wird dort Schatzmeisterin und später zur Leiterin von fOHRum.

Die ehrenamtlichen Aufgaben fressen Zeit wie ein Vollzeitjob, den die Tuchenbacherin ja auch hat. Zu viel wird es ihr trotzdem nicht. Weil sie die Hilflosigkeit kennt, die einen erst erschlägt, wenn Worte wie "gehörlos" oder "schwerhörig" fallen. Auch weil die Eltern die Beeinträchtigung selbst nicht erleben. "Ich weiß jetzt, warum mein Sohn früher mittags immer drei Stunden geschlafen hat: Er war kaputt, weil es für ihn anstrengend war, allem zu folgen, und er sich so konzentrieren musste."

Selbsthilfe und Selbstvertrauen

Sie sucht viel Kontakt zu betroffenen Eltern. Die vier Treffen im Jahr sind ihr nicht genug. Grätz plant Ausflüge, um Zeit mit den Müttern und Vätern zu verbringen, und um die Kinder zusammen zu bringen. "Sie tanken Selbstvertrauen, wenn sie beieinander sind." Zum achten Mal findet heuer das von Grätz über BayCIV organisierte Teen-and-Friends-Wochenende statt, diesmal im Kloster Strahlfeld am Seinberger See. Thema: "Gleichgewichtstraining in der Höhe und am Wasser", zum Beispiel beim Stand-Up-Paddeln.

Ein Dreivierteljahr hat Grätz die Reise vorbereitet. Die Pandemie habe ihr wieder einmal gezeigt, dass die Beeinträchtigung ihrer Kinder eine Lebensaufgabe ist. Erst nach Kritik des BayCIV gibt es in den Verordnungen zum Infektionsschutz eine Ausnahme für Hörbehinderte: Seitdem dürfen, wenn möglich, Verkäufer den Mund-Nasen-Schutz abnehmen, "weil viele mit Hörschädigung die Lippen sehen müssen oder durch die Maske ihr Gegenüber einfach noch schlechter verstehen".

Heute gibt's eine Krabbelgruppe

Verstehen – das kann Andrea Grätz ihre Zwölfjährige und ihren 16-Jährigen inzwischen gut. Wenn sie sieht, wie schwerhörige Kinder heute zweisprachig mit Gebärdensprache und viel Förderung aufwachsen, macht sie das stolz. Sie hat ihren Teil dazu beigetragen. Als die Zahl der sehr jungen Betroffenen wächst, eröffnet fOHRum eine Krabbelgruppe. Sie trifft sich sechsmal im Jahr, um Schwierigkeiten aus dem Alltag offen anzusprechen.

Die Krankheit zu verheimlichen, ist eines der größten Probleme. Denn "Schwerhörigkeit ist eine versteckte Behinderung", über die viele Betroffene nur ungern sprechen. Andrea Grätz ändert das.

InfoInfos unter shg-fohrum.de

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