Notstand auch in Franken: Immer häufiger fehlen Medikamente

17.11.2019, 05:40 Uhr
Notstand auch in Franken: Immer häufiger fehlen Medikamente

© Jens Schierenbeck/dpa

Immer öfter bekommen Patienten in der Apotheke zu hören: Ihr Medikament ist leider nicht lieferbar. Betroffen sind meist Generika, also Arzneien, deren Patentschutz abgelaufen ist. Da sind Blutdrucksenker, Schilddrüsenhormone und ganz banale Mittel wie Ibuprofen dabei, aber auch Antibiotika, Impfstoffe oder Krebsmedikamente.

Eine Übersicht des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte im Internet (www.bfarm.de) listete gestern 288 aktuelle Lieferengpässe auf, alle Meldungen beliefen sich auf 599 Engpässe. Bei manchen findet sich der Vermerk "Löschhinweis", aber oftmals ist das Medikament trotzdem nicht verfügbar.

Neuerlicher Gang zum Arzt bleibt oft nicht erspart

Ein Problem, mit dem Margit Schlenk, Sprecherin der Nürnberger Apothekerschaft, sowie ihre Kolleginnen und Kollegen bundesweit seit vielen Wochen konfrontiert sind. Oft kann Patienten mit einer anderen Packungsgröße oder einem Präparat von einem anderen Hersteller geholfen werden.

Manchen Patienten — besonders betroffen sind Menschen mit psychischen oder neurologischen Erkrankungen — bleibt aber ein neuerlicher Gang zum Arzt nicht erspart. Weil es keine Alternative zu dem Wirkstoff gibt, der in ihrem gewohnten Medikament steckt, muss ihre bewährte Therapie umgestellt werden.

Apotheken haben Probleme

Für die Apotheker bedeutet die Suche nach möglichen Alternativen einen enormen Mehraufwand. "Mindestens zehn Prozent unserer Arbeitszeit wird dadurch gebunden. Wir tun das gerne für unsere Kunden, aber es entsteht für Apotheken ein Kostenblock, der nicht vergütet wird", sagt Schlenk. Sie kommt sich manchmal vor wie am Brokermarkt an der Börse – der Schnellste bekommt etwas, große Apotheken und vor allem Versandapotheken sichern sich in ihren Augen oft das spärliche Marktangebot. "Die Vor-Ort-Apotheke dagegen hat zunehmend keine Möglichkeit mehr, alles zu bekommen, was sie für ihren gesetzlichen Versorgungsauftrag braucht."

Die Apotheke um die Ecke muss dann auch mit dem Frust, der Enttäuschung und den Ängsten der Patienten umgehen. "Besonders hart betroffen sind ältere Menschen, die viele Arzneien über lange Zeit oder lebenslang einnehmen müssen. Die tun sich sowieso schon schwer damit, wenn ich ihnen durch die wechselnden Rabattverträge, die ihre Krankenkasse mit den Anbietern schließt, immer wieder andere Medikamente geben muss und deshalb die Schachtel immer anders aussieht."

Dramatische Folgen für Patienten

"Ich empfinde wirklich große Bitterkeit darüber, dass ich meinen Beruf nicht mehr die Möglichkeit habe, alle Patienten gut zu versorgen. Da muss sich dringend etwas ändern", meint Schlenk.

Als „irrwitzig“ bezeichnet Dr. Annette Sattler, die Leiterin der Krankenhaus-Apotheke am Klinikum Nürnberg, die Situation. Auch sie und ihre Mitarbeiter kämpfen mit zahllosen Lieferabrissen. Für die Patienten kann das dramatische Folgen haben.

Zum Beispiel war wochenlang bundesweit ein Medikament nicht verfügbar, das bei Nachgeburtsblutungen eingesetzt wird. Bei einer solchen Blutung kann Lebensgefahr für die Mutter bestehen. Die Ärzte mussten auf verschiedene Präparate ausweichen, die aufwändiger in der Anwendung beim Patienten sind. Und die Mediziner mussten dabei auch beachten, welche dieser Medikamente in welcher Situation überhaupt zugelassen sind. Besonders ärgerlich: Das Arzneimittel lag beim Hersteller im Lager und durfte nur deshalb nicht ausgeliefert werden, weil es nicht ordnungsgemäß "serialisiert" war.

Ware wird etwa aus den USA importiert

Genau wie ein spezielles Botulinum-Toxin-Präparat, das Patienten brauchen, die unter schweren Spastiken leiden. Dieses „Botox“ ist seit Monaten nicht verfügbar, weil eben der sogenannte Serialisierungscode fehlte. Der muss seit einigen Monaten nach EU-Recht auf jeder Faltschachtel aufgedruckt sein, um Patienten vor gefälschten Arzneimitteln zu schützen. In der Apotheke wird seither jede einzelne Schachtel gescannt und überprüft, bevor sie dem Patienten ausgehändigt wird. Einige Firmen haben aber zum Beispiel durch IT-Probleme diesen Schachtelaufdruck nicht rechtzeitig hinbekommen und dürfen deshalb die Arzneien nicht ausliefern, die fertig produziert sind und dringend benötigt werden.

"Um die Patientenversorgung zu gewährleisten, mussten und müssen wir Ware zum Beispiel aus den USA importieren und können ausgerechnet diese Ware mit dem neuen Sicherheitssystem gar nicht überprüfen und wissen dann aber nicht, was in den Medikamenten wirklich drin ist“, sagt Sattler. Denn außerhalb der EU ist der Sicherheitscode nicht vorgeschrieben. "Es ist besonders absurd, wenn wir Arzneimittel importieren müssen, von denen wir natürlich nie wissen können, durch wie viele Hände sie gegangen sind, weil für Deutschland produzierte Ware nur wegen des neuen Sicherheitssystems nicht ausgeliefert werden darf", meint die Apothekerin.

Am Klinikum war Kochsalzlösung schon knapp

Selbst Kochsalzlösung war im Klinikum Nürnberg schon knapp: Nach großen Operationen wird zum Beispiel der gesamte Bauchraum mit steriler Kochsalzlösung durchgespült. Dazu werden große Beutel benötigt, und genau die gab es wochenlang nicht, so Sattler. "Wir sind da gerade so durchgeschlittert und hatten keinen Versorgungsausfall. Aber wir haben den Ärzten schon signalisiert: Seid mal sparsam, es könnte eng werden.“, berichtet die Apothekerin.

Prof. Fritz Sörgel, einer der anerkanntesten Pharmakologen im Land und Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung (IBMP) in Heroldsberg, ist überzeugt, dass sich die Probleme bei der Medikamentenversorgung weiter verschärfen werden. Er fordert eine Abkehr vom Prinzip, wer am billigsten liefert, bekommt den Zuschlag.

"Nur absolute Niedrigstpreise"

Bislang schreiben Krankenkassen Rabattverträge für bestimmte Medikamente aus; ihre Mitglieder bekommen dann in der Regel nur noch die Präparate des Herstellers mit dem günstigsten Preis. Diesen Druck geben die Unternehmen weiter und beziehen Ware von Herstellern in Indien oder auch China. "Das führt dazu, dass Generika-Firmen den Produzenten der Wirkstoffe dort nur absolute Niedrigstpreise zahlen", meint der Pharmazeut.

Die Herstellungsbedingungen, zu denen dieser Kostendruck zwangsläufig führt, interessieren niemanden. Und so kommt es dann, dass – wie schon geschehen – eine Fabrik in die Luft fliegt und die Produktion eines wichtigen Wirkstoffes zum Erliegen kommt. Oder auch mal eine Produktionsstätte geschlossen wird, weil die Produktion nicht mehr den Sicherheitsstandards entspricht. Oder verunreinigte Präparate in Umlauf kommen, wie es vor gut einem Jahr beim Blutdrucksenker Valsartan der Fall war. In den Tabletten wurden krebserregende Nitrosamine entdeckt.

Sörgel sieht mit großer Sorge, dass es in Deutschland keine größere Arzneimittelindustrie mehr gibt, die auch hier produziert. "Dadurch ist eine Abhängigkeit entstanden, die im Falle eines Wirtschaftskriegs absolut fatal wäre." Um wieder eine entsprechende Industrie in Deutschland wieder aufzubauen, bräuchte es aber bestimmt zwei Jahrzehnte, schätzt Sörgel. Also kein Ansatz für eine kurzfristige Lösung.

 

 

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